Komm, mein Junge: Erich Kästner mit seiner Mutter Ida Kästner (geborene Augustin). Foto: ullstein bild

«Du bist ihr Schutzengel …»

Ein literarischer Beitrag zum Muttertag

Kleine Söhne und ihre Mütter in Krisenzeiten – der etwas andere Beitrag zum Muttertag.

von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Morgens in Manchester, 8. Oktober 1912: Der Vater liegt vor der Tür des Speisezimmers, das Gesicht weiss, Schaum vor dem Mund. Ans Ohr des Knaben dringen die Schreie der Mutter: «Jacques, Jacques!» Da sagt jemand: «Das Kind muss weg.» In den Monaten nach dem Tod des erst 31-jährigen Vaters schläft der Siebenjährige nachts neben der Mutter, denn es ist gefährlich, sie allein zu lassen. So wird er zum Wächter über ihr Leben:

«Ich konnte sie nicht trösten, sie war untröstlich. Aber wenn sie aufstand und sich ans Fenster stellte, sprang ich auf und stellte mich neben sie. Ich umklammerte sie mit meinen Armen und liess sie nicht los (…), und wäre sie zum Fenster hinausgesprungen, sie hätte mich mitziehen müssen.»


Elias Canetti (1905–1994) hält diese Szene im ersten Teil seiner Autobiografie fest, «Die gerettete Zunge» (1977). In einer Nacht habe die Mutter mehr als einmal versucht, hinunterzuspringen, und nachher seien sie beide erschöpft eingeschlafen. Allmählich flösste der Mutter das wachsame Verhalten ihres ältesten Sohnes Respekt ein, und sie begann, ihn in manchen Angelegenheiten wie einen Erwachsenen zu behandeln, schmälerte jedoch so das Kindsein des Jungen.

cDie feministisch orientierte Literatur der letzten Jahrzehnte rückte die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern in den Vordergrund. Darüber gingen die Mutter-Sohn-Geschichten etwas vergessen. So stellen die Beispiele innerhalb dieses Beitrags Knaben ins Zentrum, die ihren gefährdeten Müttern in seelischer Not beistanden: als kleine Beschützer, ja Schutzengel. Die Art, wie sie die mütterliche Ausweglosigkeit erspürten, ist ergreifend und wirft Licht auf die Fähigkeiten kindlicher Empathie, die nicht nur den Mädchen, sondern auch den Knaben mitgegeben worden ist.

Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

Tel Aviv, 6. Januar 1952: In der Nacht vom Schabbat auf den Sonntag beendete eine junge Frau ihr Leben. Ihr dreizehnjähriger Sohn plagte sich mit dem Vorwurf, dass er nicht an ihrer Seite gewesen sei, denn die Mutter weilte damals in der Wohnung ihrer Schwester, während er mit dem Vater in Jerusalem blieb.

Zuvor war die Mutter auf Empfehlung ihres Facharztes, der zu Bewegung riet, aus dem Haus gegangen und durch die Strassen spaziert. Aber der 5. Januar war ein kalter, regenreicher und windiger Tag, und die junge Frau kehrte erst nach Stunden verfroren und durchnässt zurück. Sie legte sich früh abends ins Bett und schluckte die tödliche Portion Schlaftabletten.

«Wäre ich dort bei ihr gewesen (…) an jenem Schabbatausgang, hätte ich ihr bestimmt mit aller Kraft zu erklären versucht, warum sie das nicht tun dürfe. Und wenn es mir nicht gelungen wäre, es ihr zu erklären, hätte ich alles getan, um ihr Mitleid zu erregen, dass sie sich ihres einzigen Sohnes erbarme. Ich hätte geweint und gefleht, ohne jegliche Scham…»

Mit dem Tod der Mutter schliesst Amos Oz (1939–2018) seinen 800-seitigen Roman «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis», der 2008 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Es ist eine Lektüre, die einen über Wochen nicht mehr loslässt.

An die frische Luft

Recklinghausen, Ende der Sommerferien 1973: Ausnahmsweise gestattet die Mutter ihrem Jüngsten, abends so lange Fernsehen zu schauen, wie er will. «Also bis Sendeschluss», glaubt der Neunjährige und legt sich mitternachts ins Bett neben seine Mutter. Sie schläft tief, gibt aber seltsame Geräusche von sich, sodass Hans-Peter erschrickt und sie vergeblich wachzukriegen versucht. Niemand ist ausser ihm in der Wohnung.

In seiner Not betet er ein Vaterunser nach dem andern, bis der Vater von der Nachtschicht zurückkehrt und die Notfallnummer wählt. Der Suizidversuch endet tödlich. Erstmals hat der Entertainer Hape Kerkeling (*1964) in seinem Bestseller «Der Junge muss an die frische Luft» (2014) von diesem verstörenden Ereignis in seiner Kindheit berichtet.

Bring mich nach Hause «Stolz und aufrecht und doch eine arme Seele» – so beschreibt Erich Kästner (1899–1974) seine Mutter Ida in den Dresdner Erinnerungen «Als ich ein kleiner Junge war» (1957). Er sollte lebenslang ihr Ein und Alles bleiben. Kam der Knabe aus der Schule, lagen auf dem Küchentisch oft Zettelbotschaften: «Ich kann nicht mehr! Sucht mich nicht! Leb wohl, mein lieber Junge.» Der Sohn stürzte aus der Wohnung, «von wilder Angst gehetzt und gepeitscht», der Elbe entgegen. «Mutti, Mutti!», rief er und rannte um ihr Leben.

Wie eine Wachsfigur stand sie auf einer der Brücken. Der Knabe schrie, weinte und schüttelte sie, «und dann erwachte sie wie aus einem Schlaf mit offenen Augen» und sagte: «Komm, mein Junge, bring mich nach Hause.» Heimlich geht Erich zu Sanitätsrat Zimmermann und gesteht dem Hausarzt seine Angst, die Mutter könnte sich eines Tages von der Brücke stürzen. Der Arzt beruhigt ihn: «Nein, ihr Herz wird an dich denken. Du bist ihr Schutzengel.»

 

Für emotionale Erste Hilfe und bei Suizidgedanken: Rufen Sie bitte Tel 143 an oder kontaktieren Sie 143.ch per Mail oder Chat. Das Gespräch ist anonym, vertraulich und kostenlos. Junge Menschen, die ein Geschwister oder einen Elternteil durch Suizid verloren haben, finden auch Unterstützung auf nebelmeer.net.

 

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