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Leere

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Die Leere braucht, anders als das Nichts, eine Hülle, die sie umgibt. Ohne Hülle wäre sie Nichts. In dieser Begrenzung aber ist sie reich an Möglichkeiten.

Die Leere ist kostbar, alles ist möglich. Die Leere ist unverzichtbar, ohne sie gibt es keine Bewegung, keinen Klang, kein Gestalten. Ein weisses Blatt, der Resonanzkörper einer Geige, eine nack­te Bühne. Die Leere braucht ein Gefäss. Ein Gefäss sehnt sich nach Fülle. Doch Leere ist schwer auszuhalten. Nicht im­mer ist die Leere ein Versprechen, manchmal kann sie sich wie das Ende anfühlen. «Ich fühle mich total leer», sagt die Frau auf dem Notfall, die bei der Arbeit schwer verletzt wurde.

«Ich habe keinen Plan, wie es weiter­ gehen soll» – orientierungslos findet sie sich herausgerissen aus dem geschätz­ten Alltag. «...ich habe mir fast die Augen ausgeweint, mein Leib tut mir weh, mein Herz ist auf die Erde aus­ geschüttet ... wie Wasser», lese ich in den Klageliedern (Klagelieder 2, 11ff). Dann schreit die Leere nach Trost, nach Erklärung, nach Wiederherstellung der verlorenen Fülle.

Wir begegnen als Team einer Trauma­therapeutin. Wir fragen, wie wir uns selbst schützen können, wenn wir bei der Arbeit mit belastenden Ereignissen konfrontiert sind, wenn wir Menschen begleiten, die gerade eine Gewalttat, einen Unfall, eine Katastrophe überlebt haben. Die Betroffenen sind oft rand­voll mit Eindrücken, Geräuschen, Gerü­chen, Bildern und galoppierenden Ge­danken. Es kann für sie entlastend sein, immer wieder ausführlich zu erzählen, was geschehen ist. Das Wichtigste sei, so lernen wir, selber dabei leer zu blei­ben und sich kein Bild von der Situation zu machen. Es sei auch gar nicht nötig, sich genau vorzustellen, was passiert ist. Wichtig sei einzig, wahrzunehmen, wie es den Betroffenen jetzt geht, und dafür einen sicheren Rahmen, ein offenes Gefäss anzubieten. Wir stehen da mit leeren Händen und können niemandem nichts von der Last ab­ nehmen. Oft haben wir nichts als Leere zu bieten, im weiten Rahmen einer auf­ merksamen Präsenz.

Marianne Kramer, Seelsorgerin am Inselspital

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