«Alle hatten Dreck am Stecken», sagt Raoul Rosenberg, ein Nachkomme von Holocaust-Überlebenden.

Nie wieder Etagenbetten und Nachtzüge

Ein Holocaust-Nachkomme berichtet.

Holocaust-Nachkomme Raoul Rosenberg berichtete in einer Klasse des Berner Gymnasiums Neufeld vom Schicksal seiner jüdischen Familie.

Von Anouk Hiedl | Fotos: Ruben Sprich

«Ich beschäftige mich seit langem mit der Shoa und verstehe doch noch immer nicht alles. Was ich euch erzählen werde, ist eine verworrene Geschichte, eine mit vielen Menschen und Daten. Manchmal dauerte etwas sehr lange, manches geschah dann wiederum sehr schnell», beginnt Raoul Rosenberg seine Nacherzählung aus dem Leben von Lilly Blum-Sigmann, der vor drei Jahren verstorbenen Tochter seiner jüdischen Grosstante. Das Berichten als Zweitzeuge bewege ihn manchmal. «Gebt mir dann einfach einen Moment Zeit», bittet er die 17- und 18-Jährigen, die vor ihm sitzen.

Eine ganz normale Familie

Mit Fotos, vom Urgrossvater Josef Weinberger bis zu Lilly und ihren vier Brüdern, stellt Raoul Rosenberg Sigmann-Weinbergers vor: eine «normale» jüdische Familie aus der Zürcher Mittelschicht, die deutsch spricht, koscher kocht, den Sabbat feiert und mässig religiös, aber sozial aktiv ist. Lillys Vater Bernhard Sigmann stammt aus dem polnischen Przemyśl, «da, wo heute ukrainische Flüchtlinge hinkommen». Als er und Lillys Mutter Yettli Weinberger 1925 heiraten, verliert sie ihr Schweizer Bürgerrecht. «Das wird später ihr Todesurteil», sagt Raoul Rosenberg, Yettlis Grossneffe, «denn so kann sie nicht mehr in ihre Heimat zurück. Das ging vielen anderen verheirateten Schweizer Jüdinnen auch so.» Die Familie wandert aus und baut in Amsterdam ein Papeteriehandelsgeschäft auf. 1933 wird Lilly als viertes von fünf Kindern geboren. 1939 bricht der Zweite Weltkrieg aus, 1940 folgt die deutsche Besetzung der Niederlande. Der wirtschaftliche und soziale Abstieg der Sigmanns beginnt, 1941 geht die «Judenjagd» im Land los. Am 20. Januar 1942 gibt Hitler die «Endlösung», die Ausrottung der Juden, bekannt, und der Judenstern wird eingeführt, auch in den Niederlanden. Lillys Mutter hält die Familie an, ihn «mit Stolz» zu tragen.

Versteckt, verraten, deportiert

Im Dezember 1942 verstecken sich Yettli und die Kinder in einem Waisenhaus und einer psychiatrischen Klinik. Der Vater bleibt daheim. Ende Dezember werden alle verraten. Am 1. Januar 1943 werden die Eltern und zwei ihrer Buben verhaftet und deportiert. Raoul Rosenberg zeigt Fotos des riesigen Geländes in Auschwitz, wo die vier ihre letzten zwei Stunden erlebten. «Alle gelangten vom Zug direkt auf die Selektionsrampe. Entweder wurde man zu schwersten Arbeitseinsätzen beordert, oder man kam direkt ins Gas.»

Kindheit im KZ

Lilly und ihre Brüder Leo und Charly werden im Februar ins KZ Westerbork deportiert. «Lilly erzählte, dass sie in einer Baracke wohnten und dass sie die Kleider ihrer Brüder wusch. Die drei waren auf sich gestellt und lebten in der Ungewissheit: Warum sind wir hier? Wo sind unsere Eltern? Was ist an uns nicht ok?» Jeden Dienstag fuhr ein Zug nach Ausschwitz. «Die Angst mitzumüssen war gross. Man wusste, dass niemand zurückkommt.» Zwei Mal standen Lilly und ihre Brüder auf der Liste, beide Male wurden sie wieder gestrichen.

Am 1. August 1943 kommen gefälschte Pässe für die drei Sigmann-Kinder an. Nach 1,5 Jahren fahren sie ins KZ Theresienstadt, wo die Überlebenschancen höher sind als in Ausschwitz. Lilly habe darum gekämpft, auf den dreistöckigen Pritschen ganz oben zu schlafen. Die Klasse äussert Vermutungen warum, bis Raoul Rosenberg aufdeckt: Traumatisierte Menschen schreien nachts und nässen ein.

Nach Kriegsende kommen die drei Kinder zurück nach Amsterdam. Die Buben leben danach bei einem Onkel in Amerika und Lilly bei einer Tante in Zürich. Sie sehen sich erst 14 Jahre später wieder. «Nach dem Kaffee-Ersatz im KZ trank Lilly keinen Kaffee mehr, und sie hasste Etagenbetten und das «Ticktack» der Räder von Nachtzügen. Zeitlebens waren ihr Respekt, Friedensbemühungen und soziale Gerechtigkeit wichtig.»

Die Gymnasiast:innen haben aufmerksam zugehört und wollen mehr wissen: Warum der Judenstern getragen wurde, wer die Familie verraten habe oder ob sich andere Staaten Juden und Jüdinnen gegenüber besser verhalten hätten als die Schweiz. «Alle hatten Dreck am Stecken», sagt Raoul Rosenberg abschliessend, «so leicht wie ukrainische Flüchtlinge heute kam niemand zu einem Schutzstatus.»

Die Stiftung «SET Erziehung zur Toleranz» hat das Projekt «Holocaust. Nachkommen erzählen» entwickelt. Nachkommen von Überlebenden geben das «Nie wieder» in Schulen weiter. www.set.ch/holocaust-nachkommen

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