Schreiben, Liebe, Freiheit

Für Sie gelesen. Tipps aus der Buchhandlung voirol

Für Sie gelesen. Tipp aus der ökumenischen Buchhandlung voirol

Markus Orths erzählt vom wohl berühmtesten Schreibwettbewerb der Literaturgeschichte. Ein Vulkanausbruch im Pazifik im Sommer 1816 sorgte für schlechtes Wetter in Europa und eine legendäre Liebes- und Arbeitsgemeinschaft sass wochenlang in der Villa Diodati am Genfersee fest. Als den eingeschlossenen Romantiker:innen der Vorrat an deutschen Schauergeschichten ausging, beschlossen sie kurzerhand, selber welche zu schreiben. Sie, das waren die damals 18-jährige Mary Godwin, später Mary Shelley, ihr künftiger Ehemann, der Dichter Percy Shelley, sowie Marys Stiefschwester Claire Clairmont. Hinzu kamen noch der Skandaldichter Lord Byron, eine Art Literaturpopstar seiner Zeit, und sein ebenfalls literarisch ambitionierter Leibarzt John Polidori. Gewonnen hat diesen Wettbewerb Mary mit ihrem Roman «Frankenstein oder Der moderne Prometheus».

Es geht aber nicht nur um diesen Schreibwettbewerb oder um die bekannte Schriftstellerin. Viel zu lange stand Marys wilde Stiefschwester im Schatten der Frankenstein-Autorin. Dabei war es Claire, die Mary mit dem jungen Dichter Shelley zusammenbrachte – um sich dann zielstrebig Lord Byron als Liebhaber zu angeln und das Treffen am Genfersee zu arrangieren. Grossartig versteht es der Autor dabei, aus den Gegensätzen und Rivalitäten zwischen den beiden Stiefschwestern ein ums andere Mal literarische Funken sprühen zu lassen. Hier die melancholische, vom Tod ihrer Mutter im Kindbett gezeichnete Mary, dort die liebestolle, exaltierte Claire.

Das für die Zeitgenossen skandalöse Treiben dieser Ménage-à-trois wird von Markus Orths fulminant erzählt. Etwa wie der längst verheiratete, schwer verschuldete Atheist Percy mit den beiden jungen Frauen in einer Kutsche durchs kriegsversehrte Frankreich rumpelt, immer unter dem Banner der freien Liebe. Es ist das unbändige Verlangen nach Freiheit, das dieses Trio eint, und natürlich die Liebe zur Literatur. Gerade das Schreiben wird für die Frauen zum Medium der Emanzipation; ein Umstand, der Mary – Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des Anarchisten William Godwin – wohlbewusst ist:

«Schreiben, erfinden, erzählen, erschaffen. (…) Und das als Frau. Gegen alle Regeln. Für eine Frau gab es Schminke statt Tinte; ein weißes Hochzeitskleid statt weisses Papier; Kinder statt Bücher; Stummheit statt Stimme.»

Auch Claire schrieb damals einen Roman, «The Idiot». Byron höchstselbst zeigte sich beeindruckt, nur leider ging das Werk verschollen – eine Leerstelle, an der sich Markus Orthsʼ Einbildungskraft eindrucksvoll entzündet. Überhaupt beeindruckt sein Roman durch seine Sprachlust und seinen Humor und nicht zuletzt durch seine stilistische Bandbreite. Mit «Mary & Claire» ist ihm ein großartiger historischer Roman geglückt.

Karin Schatzmann

Markus Orths: Mary&Claire. Hanser 2023, 300 S., Fr. 35.50

 

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