Einsamkeit. Morgensonne. Edward Hopper, Öl auf Leinwand, 1952, Columbus Museum of Art, Columbus. Foto: Artepics/Alamy

«Viele fühlen sich wie im Hotel Garni»

Psychotherapeut Udo Rauchfleisch thematisiert die Einsamkeit

Sie ist meist diffus. Sie wiegt schwer. Und man schämt sich oft für sie: Einsamkeit. Ein Drittel der Menschen kennt dieses Gefühl, das seit der Pandemie einen Schub an Brisanz und Aktualität erhalten hat. Psychotherapeut Udo Rauchfleisch thematisiert in seinem neuesten Buch diesen gesellschaftlichen Brennpunkt.

von Marcel Friedli-Schwarz

«Ich gehe immer gekrümmter durchs Leben», schreibt Pierre Stutz in seiner Autobiografie «Wie ich der wurde, den ich mag». Denn der Bestseller-Autor trägt jahrzehntelang ein Geheimnis mit sich herum, das er nicht zu lüften wagt. «Da ich unfähig bleibe, den engsten Freund:innen zu erzählen, dass ich innerlich todunglücklich bin, werde ich noch einsamer.» Äusserlich ist er auf dem Höhepunkt des Erfolges – innerlich im freien Fall.

Einsamkeit

«Ich lehne mich als queeren Menschen ab», schreibt der Ex-Priester über die Zeit vor seinem Coming-out vor rund 20 Jahren. «Ich tue dies, weil ich nicht in die furchtbare Lage geraten will, zwischen meinem Priesteramt und meinem Urwunsch, Liebender zu sein, entscheiden zu müssen. Weil ich mich selber mit dieser Diskrepanz so schwertue, werde ich noch verschlossener. Und verbringe meine freien Tage noch vereinsamter.»

Um die sich keiner kümmert

Solche Zeiten und Gefühle kennen etliche Menschen. «Es gibt viel Einsamkeit», bestätigt Psychologe Udo Rauchfleisch. Er hat ein fundiertes und gut lesbares Buch zur Thematik verfasst (vgl. Box), das eben auf den Büchermarkt gespült worden ist.

«Viele fühlen sich wie im Hotel Garni: als anonyme Gäste, für die sich niemand interessiert. Um die sich keiner kümmert.» Ungeheuer viele Menschen empfinden sich ohne Gegenüber, ohne Resonanz. «Man schätzt», sagt Udo Rauchfleisch, «dass ein Drittel der weltweiten Bevölkerung selber erfahren hat oder erfährt, was es bedeutet, sich einsam zu fühlen.»

Die Regierung in Deutschland hat Einsamkeit vor kurzem zum Thema des Jahres erklärt. Und in England gibt es ein Ministerium für Einsamkeit. «Seit der Pandemie», sagt Udo Rauchfleisch, «hat die Thematik einen Schub an Dringlichkeit und Brisanz erhalten.»

Die grosse Kluft

Einsamkeit ist für jede Person anders. «Sie ist ein subjektives Gefühl, für jede Person fühlt es sich anders an», weiss Udo Rauchfleisch. Man erlebt sie, wenn die Qualität der Beziehungen nicht befriedigt. «Oder», ergänzt der Psychoanalytiker und Professor, «wenn es eine Kluft gibt zwischen den tatsächlichen Kontakten und der Anzahl Kontakte, die man sich wünschen würde. Verbunden mit dem Gefühl, nicht erwünscht zu sein.»

Gefühle, die nicht sichtbar sind. Die meist nicht benannt werden, diffus bleiben, sich im Versteckten ereignen – Einsamkeit ist ein stilles Phänomen. «Weil man sich meist dafür schämt. Weil einem gesagt wird, man sei selber schuld, wenn man einsam ist. Oder weil man sich selbst die Schuld dafür gibt.»

Angebote nutzen

Am meisten sind über 80-Jährige von dieser lähmenden und beklemmenden Erfahrung betroffen. «Viele Gleichaltrige sind gestorben. Hochbetagte knüpfen oft keine neuen Beziehungen.» Was tun? Udo Rauchfleisch verweist auf staatliche und kirchliche Angebote. «Ausserdem lassen sich Kontakte finden, wenn man sich gegenseitig unterstützt.»

Liest oder hört man Biografien anderer Menschen, erinnert dies daran, dass viele dieses Gefühl kennen. «Das schafft Verbindung; es lindert und relativiert die eigene Einsamkeit.» Auch sei es ratsam, den Blick fürs Erfreuliche zu schärfen: notieren, was im Leben gerade gut ist. Meistens lässt sich etwas finden. «Wer stark unter Einsamkeit leidet», betont Udo Rauchfleisch, «soll therapeutische Angebote nutzen.»

Ausgeschlossen und nicht erwünscht

Nebst dem hohen Alter ein weiterer Faktor für Einsamkeit: Krankheit, Behinderung, Armut. Auch oft betroffen sind Flüchtlinge: Sie haben alles hinter sich gelassen und sind in einem fremden Land. «Sie alle», sagt Udo Rauchfleisch, emeritierter Professor der Universität Basel, «leiden darunter, mehr oder weniger von der Gesellschaft ausgeschlossen und nicht erwünscht zu sein.»

Ausgeschlossen und nicht erwünscht: Das von Jugendlichen zu sagen, scheint seltsam. Doch auch sie leiden ab und zu unter dem Gefühl, verloren zu sein. Mit gutem Grund, wie Udo Rauchfleisch sagt: «Jugendliche sind mit etlichen Belastungen konfrontiert: Sie lösen sich vom Elternhaus und von den Schulkolleg:innen. Sie treten in eine Berufswelt ein, die ihnen viel abverlangt. Und sie sind mit politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemen konfrontiert, für die sie oft keine Lösungen sehen.»

Spirituelle Seite pflegen

Es gibt auch die Kehrseite von Einsamkeit – jene Einsamkeit, die selbstgewählt ist: Manche Menschen ziehen sich zurück, um kreative Prozesse in Schwung zu bringen. Sie reduzieren Kontakte und Reize bewusst. Oder man zieht sich zurück, um sich seiner spirituellen Seite zu widmen. Und einige benötigen regelmässig Zeit für sich alleine, in der sie für sich sind – ungestört das machen können, wonach ihnen ist: Grümschelizeit, Trödelzeit.
 

Konstruktiv mit Einsamkeit umgehen
Seit kurzem ist Udo Rauchfleischs neustes Buch zur Einsamkeit erhältlich. Er erschliesst die Ursachen und Folgen dieses Phänomens: individuelle, zwischenmenschliche, gesellschaftliche, globale. Zudem zeigt er, wie man persönlich mit Einsamkeitsgefühlen konstruktiv umgehen kann. Und er öffnet den Blick, indem er gesellschaftliche und politische Strategien entwirft, wie wir Einsamkeit eindämmen können.
Udo Rauchfleisch: Einsamkeit. Die Herausforderung unserer Zeit. Patmos-Verlag, 2024.

Udo Rauchfleisch ist emeritierter Professor für klinische Psychologie an der Universität Basel. Zudem arbeitet er als Psychoanalytiker und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Basel.

 

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