Gabriele di Francesco, Präsident des Kirchgemeinderates

DEN GEGENSEITIGEN RESPEKT STÄRKEN

DIE MISSBRAUCHSDEBATTE UND SPANNUNGEN ZWISCHEN DEN SPRACHGRUPPEN BESCHÄFTIGEN DEN PRÄSIDENTEN DES KIRCHGEMEINDERATES. WAS MEINT ER DAZU?

DIE MISSBRAUCHSDEBATTE UND SPANNUNGEN ZWISCHEN DEN SPRACHGRUPPEN BESCHÄFTIGEN GABRIELE DI FRANCESCO, PRÄSIDENT DES KIRCHGEMEINDERATES. WAS MEINT ER DAZU?

Mitte September wurden die Ergebnisse einer Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche der Schweiz veröffentlicht. Wie haben Sie selber auf diese Studie reagiert?

Gabriele di Francesco: Als Katholik und Vater eines kleinen Mädchens habe ich großen Schmerz und völliges Unverständnis empfunden. Es ist, als hätten Mitglieder meiner "Familie" diese Taten begangen und ich kann nicht verstehen, wie so etwas passieren kann. Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Schmerz all diese Opfer in all den Jahren erleiden mussten und ich denke, die katholische Kirche sollte sich offiziell bei allen Opfern entschuldigen. Als Bürger verstehe ich nicht, dass all diese Missbräuche/Gewalttaten in der Vergangenheit nicht den zuständigen zivilen Behörden gemeldet wurden. Ich bin der Meinung, dass jeder Bürger, der sexuellen Missbrauch begeht, egal ob er Priester oder ein anderer ist, nach den geltenden Gesetzen bestraft werden sollte und vor allem sollte er nicht mehr praktizieren.Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass es Pastoralmitarbeiter, Angestellte, Freiwillige und gewöhnliche Gemeindemitglieder gibt, die jeden Tag in unserer katholischen Kirche zusammenarbeiten, indem sie andere respektieren und sich einwandfrei verhalten. Die katholische Kirche ist mehr als nur diese Studie.

Viele Kirchenmitglieder sind entsetzt über das Versagen der Leitungsgremien des Bistums. Wird die Kirchgemeinde direkt oder zusammen mit der Landeskirche des Kantons Bern beim Bistum reagieren?

Wir fordern, dass die Landeskirche direkt oder über die RKZ entschieden bei der Bischofskonferenz interveniert, damit volle Transparenz geschaffen wird und schnelle Veränderungen vorgenommen werden.

Pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befinden sich in einer schwierigen Situation. Die Organisation, in der sie sich engagieren, hat einen großen Teil ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Können Sie verstehen, dass sie sich zum Teil im Stich gelassen fühlen?

Natürlich habe ich selbst als einfaches Gemeindemitglied in den letzten Wochen eine immense Traurigkeit und Verwirrung in Bezug auf diese Studie erlebt. Daher kann ich mir vorstellen, dass die Menschen, die direkt in unserer Kirche arbeiten, sich fühlen, als würde mit dem Finger auf sie gezeigt. Selbst wenn sie ihre Arbeit mit Respekt für andere ausführen und tadellos sind. Ich kann ihnen nur sagen, dass sie weiterhin arbeiten und anderen dienen sollen, wie sie es bis jetzt immer getan haben, und dass sie hoffen, dass unsere Gemeindemitglieder ihnen weiterhin vertrauen können.

Innerhalb der Kirchgemeinde Biel und Umgebung werden zuweilen, verstärkt durch die Missbrauchsdebatte, die Spannungen und unterschiedliche pastorale Ausrichtung der Sprachgruppen betont und an die Öffentlichkeit getragen. Was löst dies bei Ihnen aus?

Ich bin italienischer Abstammung, wurde in der Schweiz geboren, bin auf Französisch zur Schule gegangen, habe viele schweizerdeutsche Freunde. Ich wohne in einer zweisprachigen Stadt und habe immer in diesem multikulturellen Umfeld gelebt. Es überrascht mich nicht, dass man sich ab und zu nicht versteht oder nicht der gleichen Meinung ist. Als Präsident des Kirchgemeinderats in einer mehrsprachigen Kirchgemeinde habe ich immer ein offenes Ohr für alle Sprachgruppen und versuche den Ideen, die aus allen Sprachen kommen, das gleiche Gewicht zu geben. Es ist eine Tatsache, dass wir alle unterschiedlich sind, aber das muss eine Stärke und keine Schwäche sein. Selbst bei Meinungsverschiedenheiten gibt es andere Orte als einen Zeitungsartikel, um diese Missverständnisse auszuräumen. Ich habe nicht wirklich verstanden, warum das Thema der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Sprachen in einem Artikel über sexuellen Missbrauch auftauchte. Solche Themen können zum Beispiel an unseren Kirchgemeinderatssitzungen oder der Pastoralkonferenz diskutiert weden. Ich bin auch davon überzeugt, dass Meinungsverschiedenheiten über den Zölibat oder die Stellung der Frauen in der Kirche nichts mit Fällen von sexuellem Missbrauch zu tun haben.

Wie kann die Kirchgemeinde helfen, solche Spannungen zu minimieren?

Indem wir die Probleme auf den Tisch bringen und gemeinsam darüber diskutieren und versuchen, die beste Lösung für unsere Gemeinde zu finden. Auf der anderen Seite müssen wir auch verstehen, dass Entscheidungen, so gut sie auch sein mögen, immer Unzufriedene hervorrufen werden. Wichtig ist, den Mut zu haben, darüber zu sprechen und sich nicht abzuschotten.

Oder gehören Spannungen einfach dazu, weil kulturelle Unterschiede nun einmal Fakt sind und auch gelebt werden dürfen?

Ich habe in meinem Leben gelernt, dass zwei Menschen, die einander gegenüberstehen, nie in allem übereinstimmen. Man muss also akzeptieren, dass 20’000 Gemeindemitglieder mit unterschiedlichen Sprachen und Nationalitäten, mit unterschiedlichen Bildungshintergründen, aus unterschiedlichen politischen Parteien und vor allem jeder mit einer anderen Denkweise nicht immer einer Meinung sind. Man muss manchmal akzeptieren können, dass die Mehrheit anders entscheidet, das ist das Grundprinzip unserer Demokratie. Unsere Multikulturalität ist in erster Linie eine Stärke, die mit diesen Grenzen tatsächlich gelebt werden muss. Der Respekt ist zentral, meine Freiheit endet, wo die Freiheit des anderen beginnt.

Wir nähern uns in grossen Schritten wieder der Weihnachtszeit. Welches Geschenk wünschen Sie sich als Kirchenratspräsident?

Dass unsere Bieler Sprachgemeinschaften weiterhin friedlich zusammenleben, mit ihren Unterschieden und Qualitäten, mit Respekt vor dem anderen, in dem Wissen, dass wir alle verschieden sind.Ich möchte auch, dass die Kirche frei von jeglichem Missbrauch ist und dass unsere Führungsgremien eine echte Arbeit der Selbstkritik beginnen. Und die Fehler der Vergangenheit vermeiden, die unserer Gemeinschaft und dem Ruf unserer Religion so sehr geschadet haben und noch immer schaden.

Interview: Niklaus Baschung

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