Peter Bernd, Pfarrer, und Elsbeth Caspar, Präsidentin des Pastoralraumrates, stellen das Leitbild vor.
Foto: Niklaus Baschung

DIE ANDERE SICHT AUF LEBEN

DAS NEUE LEITBILD DES PASTORALRAUMS BIEL-PIETERLEN ZEIGT PERSPEKTIVEN AUF, WIE SICH DIE KIRCHE IN ZUKUNFT ENTWICKELN KANN.

DAS NEUE LEITBILD DES PASTORALRAUMS BIEL-PIETERLEN ZEIGT PERSPEKTIVEN AUF, WIE SICH DIE KIRCHE IN ZUKUNFT ENTWICKELN KANN.

Weshalb benötigt der Pastoralraum ein eigenes Leitbild?

Elsbeth Caspar: Wir haben in unserer Kirche unterschiedliche Player: das Pastoralraumteam, der Pastoralraumrat, die erweiterte Pastoralraumkonferenz ; es gibt relativ viele Menschen rund um Biel, die in der Kirche etwas bewirken wollen. Es ist daher wichtig für uns, fokussiert zu formulieren, in welche Richtung wir gemeinsam schauen. Sonst gehen alle ihre eigenen Wege.In unserer Gesellschaft gewinnt die Macht des Geldes ein immer grösseres Gewicht. Religion und Kirche mit ihren Werten von Gerechtigkeit, Gemeinsinn, Würde und Wert für alle Menschen werden da immer wichtiger.  Kirche allerdings ist so diffus geworden. Es ist wichtig,  unser Handeln zu konkretisieren - so beginnen sich unsere Kräfte zu verdoppeln.

Peter Bernd: Wir hatten zum einen bislang gar kein Leitbild für den Pastoralraum als ganzen. Zudem ist die Frage, wie die Zukunft der Kirche sich entwickeln kann oder will eine sehr virulente Frage. Ein Leitbild, das Konkretisierungen aufzeigt, kann hier eine grosse Hilfe sein.

Kirchliche Leitbilder sind oft nach den Grundvollzügen der Kirche (Diakonie. Liturgie, Verkündigung, Gemeinschaft) aufgebaut. Sie haben als fünftes Element die Ökumene dazugefügt. Weshalb?

Peter Bernd: Die Ökumene spielt eine grosse Rolle im Gebiet des Pastoralraums. Wir haben zahlreiche gemeinsame ökumenische Projekte: Triduum, Exerzitien im Alltag, All inclusive, Politisches Nachtgebet, gemeinsame Feiern am Sonntag, Trauercafé etc. Da liegt ein Stück Zukunft drin, weil die für uns nicht vorhandenen Trennlinien zwischen den Konfessionen Kreativität und Ideen für die Vernetzung freisetzen.

Elsbeth Caspar: Für mich ist Biel ein Ort, wo wichtige Dinge zusammen getan werden. Ein Ort, wo Ideen von andern aufgenommen werden, Menschen sich zusammentun und damit eine grössere Wirksamkeit erreichen. Die Kirchen in Biel verstehen sich als Institutionen, die im Dienste der Stadt stehen. Der vernetzte, gemeinsame Auftritt der Konfessionen gehört zu Biel.

Aussergewöhnlich: Die Leitbildsätze münden jeweils in konkrete Handlungsvorschläge. Weshalb?

Peter Bernd: Bei den Menschen aus der Basis hat es klare Forderungen für die Mitarbeit gegeben. »Ich mache nur an diesem Prozess mit, wenn es ganz konkret wird.» Da war es naheliegend, zuerst eine theologische Basis, eine Grundüberzeugung zu erarbeiten. Und im Anschluss darauf unter dem Titel «Was wir tun – was uns wichtig ist» direkte Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Elsbeth Caspar: Für mich sind die Konkretisierung nicht einfach Vorschläge. Sondern eine Bestandesaufnahme und eine Perspektive. Wir haben geprüft, was schon in Biel vorhanden ist und was wir noch dazustellen möchten Dies haben wir verdichtet. Die Konkretisierung im Leitbild sind eine Mischung: Wir zeigen auf, wo wir bereits dran sind und in welche Richtungen wir noch weitergehen möchten.

Alles ist stets im Fluss: Will das nächste Pastoralraumteam mit unterschiedlichen Kompetenzen nicht selber entscheiden, welche Engagements ihnen wichtig sind?

Peter Bernd: Es wird ein gedrucktes Exemplar des Leitbildes geben, auch ein «wandelbares» digitales Exemplar. Es besteht bei den Konkretisierungen gerade diese Idee, dass dieser Prozess stets weitergeführt wird. Was konnten wir von unseren Zielen nicht umsetzen? Wie müssen wir uns neu aufstellen?

Elsbeth Caspar. Die Neuen Medien bieten ganz neue Möglichkeiten. Es ist nicht mehr dieses starre, unveränderbare Leitbild. Unser Leitbild liegt in der steten Arbeit und von daher können auch neue Leute im Pastoralteam hier weiter tätig anknüpfen. Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen: Der Pastoralraumrat muss gemäss seinen Statuten, jedes Jahr eine Pastoralraumversammlung organisieren. Sie findet am 3. November statt. Dort möchten wir direkt mit den Leuten ins Gespräch kommen was für sie an einer Kirche der Zukunft wichtig ist.

Der «Einsatz für Gerechtigkeit» scheint mir als Leitbild-Leser ein zentraler Begriff zu sein. Wie sehen Sie dies?

Peter Bernd: Der Eindruck stimmt. Allerdings wird der Begriff «Gerechtigkeit» oft missbräuchlich verwendet. Ich denke, dass wir im Leitbild Wege gefunden haben, um den Begriff  - vor allem unter Berufung auf die Bibel: Stichwort «Option für die Armen und Bedrängten» – aufzuschlüsseln und für unsere aktuellen Herausforderungen zu konkretisieren.

Elsbeth Caspar: Ich habe nachgeschaut, der Begriff Gerechtigkeit kommt gar nicht so oft vor. Es werden eine ganze Fülle von «Gerechtigkeiten» aufgeführt (in Beziehungen, im Sozialen, in der Armut, in der Schöpfung ect.). Das finde ich die Qualität dieses Leitbildes, dass es die Perspektive eines Lebens unter dem Gesichtspunkt von Reich Gottes auflegt und nicht einfach nur unter Gerechtigkeit.

Welches Ziel, welcher Handlungsvorschlag im Leitbild ist ihnen besonders wichtig?

Peter Bernd:  Ein besonderes Anliegen ist die Aktionsgruppe, in welcher die politische Diakonie wach bleibt,  sich vernetzt mit anderen Playern und auch öffentlich auftritt. Wichtig sind mir zudem unterschiedliche Formen der Liturgie für vielfältige Gruppen und Menschen, etwa unter Einbindung anderer kultureller Formen.

Elsbeth Caspar: Vom Pastoralraumrat her ist mir die Gemeinschaft das wichtigste. Wenn es uns nicht gelingt, Menschen anzusprechen und diese Sehnsucht zu wecken, dann braucht es die Angestellten eigentlich nicht mehr. Kirche und Religion ist zurzeit fast der einzige Ort, wo diese andere Sicht auf Leben noch thematisiert werden kann - und muss. Die momentane Situation der Gesellschaft verleitete zur Haltung: Ich suche wenigsten meinen eigenen Lebenssinn. Wenn ich an Kirche denke, dann kommt der Aspekt dazu, dass ich mit anderen Menschen zusammen eine Verantwortung trage und mich da drin, nämlich gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, auch verwirkliche.

Die Bevölkerung in Biel und Umgebung ist multikulturell, das Leben ökonomisch für viele herausfordernd. Welche Rolle soll da die röm.-kath. Kirche einnehmen?

Elsbeth Caspar: Punktuell soziale Beheimatung bieten, Perspektiven aufzeigen, neue Denkmöglichkeiten ausprobieren, Fragen querstellen – das sind ganz wichtige Aufgaben von Kirche. Die Kirche muss keine Einzelfallhilfe übernehmen, aber tatkräftig mithelfen, brennende Themen zu anzupacken.

Peter Bernd: Ich wünsche mir, dass es uns als Kirche gelingt, Menschen zusammenzubringen. Dann sind die Theologen automatisch auch im Spiel. Dass wir als Kirche auch Einspruch erheben. Da erhoffe ich mir mehr Unterstützung von der Schweizer Kirche. Dies soll Menschen im Pastoralraum aber nicht daran hindern, gute Fragen zu stellen und uns Träume zur Verfügung zu stellen.

Hängt die Verwirklichung des Leitbildes nicht stark von den vorhandenen personellen Ressourcen, die aber schrumpfen, ab?

Peter Bernd: Ich hoffe, dass das Bistum Menschen mit ganz anderen Stellenprofilen (Musiker/Kulturschaffende/Handwerker:innen) hereinholt, anstatt permanent an den Vakanzen hängen zu bleiben. Sonst überlagert der Stress, schaffen wir dies überhaupt, alles andere.

Elsbeth Caspar: Diese grossartigen Konzepte, die einst für die Pastoralräume entwickelt wurden, sind heute meist Papiertiger. Die Erosion der Kirche ist so fortgeschritten, dass ich dazugekommen bin, andersherum zu denken: Wie kann ich mich mit Leuten vor Ort einlassen, wie können wir unsere Ideen, Sehnsüchte, Perspektiven zusammenlegen, so dass etwas Neues entstehen kann? Ich habe gelernt, es braucht dazu Widerspruch, es braucht Provokation, damit wir diese Leute erreichen. Es ist eine grosse Aufgabe.

 

Interview. Niklaus Baschung

 

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