Sozialhilfegesetz

Wo liegen die Missstände im Sozialwesen?

Der Entwurf zum neuen Sozialhilfegesetz sieht eine Reihe von Verschärfungen zu Lasten der Sozialhilfebezüger vor. So sollen ihnen bis zu 30 Prozent des Grundbedarfs gekürzt werden – dies, obwohl der Kanton Bern ohnehin schon tiefere Ansätze hat als die Skos empfiehlt. So sollen sie motiviert werden, möglichst schnell wieder aus der Sozialhilfe auszusteigen. Das neue Sozialhilfegesetz ist die Antwort des bernischen Gesetzgebers auf vermeintliche oder tatsächliche Missstände im Sozialwesen.

In der Bevölkerung kursieren verschiedene Meinungen und teils auch Vorurteile gegenüber dem Sozialwesen und den Sozialhilfebezügern. Oft sind diese nicht falsch, müssen aber in ein richtiges Licht gerückt werden.

„Mit dem Anreizsystem im neuen Sozialhilfegesetz werden Sozialhilfebezüger motiviert, so schnell als möglich wieder aus der Sozialhilfe auszusteigen und auf eigenen Füssen zu stehen.“

Antwort

Den allergrössten Teil der Sozialhilfebezüger muss man nicht motivieren! Die meisten von ihnen würden noch so gerne arbeiten oder genug verdienen, um sich und die Familie durchzubringen. Das Problem liegt eher in den Rahmenbedingungen. Viele Sozialhilfebezüger sind schlecht ausgebildet, bekommen wegen ihres Alters keinen Job mehr, arbeiten in Tieflohnbereichen oder in prekären Arbeitsverhältnissen. Noch mehr Druck auf die Sozialhilfebezüger ändert daran nichts. Besser wäre es, sie zu fördern, damit sie auf eigenen Beinen stehen können.

„Arbeit muss sich lohnen! Es kann ja nicht sein, dass Sozialhilfebezüger finanziell besser gestellt sind als Leute, die ihren Lebensunterhalt selber verdienen.“

Antwort

Das stimmt. Wer gerade so viel verdient, dass er über der Sozialhilfe-Schwelle liegt, hat unter dem Strich weniger Geld zur Verfügung als jemand, der Sozialhilfe bezieht. Der grosse Teil dieser Menschen arbeitet trotzdem, um unabhängig zu sein. Doch ein Freibetrag für arbeitende Sozialhilfebezüger wäre zweifellos motivierender. Vor allem motivierender als Sozialhilfe zur Überlebenshilfe zu degradieren.

„Jeder zweite Ausländer bezieht Sozialhilfe, doppelt so viele wie bei den Schweizern. Bei den Asylbewerbern sind es sogar über 80 Prozent!“

Antwort

Flüchtlinge werden während der ersten sieben Jahre nicht über die kommunale Sozialhilfe, sondern über die Asylsozialhilfe finanziert, sie sind von den Kürzungen im Sozialbereich also gar nicht betroffen. Trotzdem stimmt es natürlich: Die Anzahl der Ausländer, die Sozialhilfe beziehen, ist zu hoch. Deshalb muss in ihre Arbeitsfähigkeit investiert werden, etwa in Sprach- und Integrationskurse oder in Berufsausbildungen.

„Das grosszügige Sozialsystem der Schweiz zieht Sozialtouristen regelrecht an.“

Antwort

Ein Viertel der Personen, die Anrecht auf Sozialhilfe hätten, beziehen keine – ganz so attraktiv kann das Schweizer Sozialwesen also nicht sein! Dass viele Ausländer in die Schweiz kommen, liegt eher an der Attraktivität des Schweizer Arbeitsmarktes. Der Sozialtourismus hingegen wird durch Konkurrenz zwischen den Kantonen und Gemeinden gefördert.

„Die Sozialhilfe ist ein Tummelplatz für Faulpelze und Betrüger!"

Antwort

2014 wurden im Kanton Bern 40 Fälle von Sozialhilfemissbrauch aufgedeckt – bei einer Zahl von Sozialhilfebezügern von fast 50‘000! Das ergibt eine Missbrauchsquote von nicht einmal einem Promille. Natürlich gibt es Arbeitsscheue, doch sie sind eine verschwindend kleine Minderheit. Beim weitaus grössten Teil der Sozialhilfebezüger fehlt es nicht am Arbeitswillen, sondern an den Voraussetzungen, einen Job zu finden.

„Über 40 Prozent der Sozialhilfebezüger sind unter 25 Jahre alt, und jeder von ihnen erhält mindestens 2400 Franken pro Monat. Ist doch klar, dass da keiner mehr arbeiten gehen will!“

Antwort

Gemäss den Zahlen des Kantons ist ein bedeutender Teil der Sozialhilfebezüger  Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren alt. Die meisten von ihnen leben bei den Eltern bzw. bei einem Elternteil. Viele der über 15-Jährigen sind in einer Ausbildung, können aber vom Lohn allein nicht leben. Jene, die nicht arbeiten, sind aber keineswegs auf Rosen gebettet. Eine eigene Wohnung gibt es nur in wenigen Ausnahmefällen. Sie müssen an Integrationsmassnahmen teilnehmen. Wer dies nicht tut oder nicht arbeiten will, dem drohen empfindliche Sanktionen.

„7000 Jugendliche leben in teuren Heimen statt bei ihren Eltern. Und der Steuerzahler darf dies bezahlen.“

Antwort

Diese Jugendlichen leben aus bestimmten Gründen in Heimen. Sie sind vielleicht Waisen, haben eine Behinderung oder eine Verhaltensauffälligkeit. Eine geeignete Betreuung soll nicht davon abhängig sein, ob ihre Eltern gut verdienen. Solche Jugendliche leben nicht in Heimen, weil sie von der Sozialhilfe abhängen, sondern sie sind von der Sozialhilfe abhängig, weil sie in Heimen leben!

„Die Sozialhilfeausgaben wachsen ins Uferlose. Allein zwischen 2003 und 2012 haben sie sich verdoppelt und betragen heute in der Schweiz gigantische 2,4 Milliarden Franken.“

Antwort

Um die Zahl zu ergänzen: Im Kanton Bern liegen die Sozialausgaben bei rund 450 Millionen Franken – wahrhaft eine stattliche Summe. Doch dass die Sozialausgaben stetig steigen, ist ein Märchen. Sowohl dieser Betrag als auch die Anzahl der unterstützten Personen ist in den letzten Jahren ungefähr gleich geblieben. Die Bruttokosten pro Person sind in den letzten Jahren sogar spürbar gesunken.

„Es besteht eine regelrechte Sozialindustrie! Das beweisen die Beschäftigtenzahlen im Sozialwesen, die sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt haben.“

Antwort

Der Grund für die Zunahme liegt in der Professionalisierung, die der Gesetzgeber beschlossen hat. Das heisst aber nicht, dass das Sozialwesen immer teurer geworden ist! Dank engerer Begleitung konnten auch viele Bezüger wieder ins Berufsleben eingegliedert werden. Zudem wird ab 2017 – unabhängig vom neuen Gesetz – das Abgeltungssystem geändert: Die Abgeltung an die Sozialdienste ist neu an die Zahl der bearbeiteten Fälle gekoppelt.

„Das Sozialwesen steht unter der Fuchtel von Sozialromantikern, die nicht genug Geld ausgeben können. Fälle wie derjenige von „Carlos“ in Zürich, der sich auf Kosten der Sozialhilfe ein Leben in Saus und Braus gönnt, sind nur die Spitze des Eisbergs.“

Antwort

Der Fall „Carlos“ hat überall Entrüstung ausgelöst – zum grossen Teil auch unter Sozialarbeitenden. Er ist aber eine Ausnahme. Die meisten Sozialhilfebezüger bemühen sich um Arbeit und bewegen sich am Existenzminimum. Ihnen hilft es nicht, sie noch mehr unter Druck zu setzen. Wichtiger ist die Frage: Was hat sie in die Sozialhilfeabhängigkeit geführt? Und wie finden sie wieder raus?

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