Seit 1996 setzt sich Schwester Annie Demerjian im Krisen geschüttelten Libanon mit Projekten des päpstlichen Hilfswerks Missio für ein Leben aller Menschen in Würde ein. Die Katholische Kirche Region Bern leistete jetzt finanzielle Unterstützung aus ihrem Hilfspaket für den Nahen Osten. Christian Geltinger, Leiter Kommunikation der Katholischen Kirche Region Bern, konnte mit ihr ein schriftliches Interview führen.
Wann hat das Engagement Ihrer Kongregation im Libanon begonnen?
Die Schwestern von Jesus und Maria sind seit 1963 im Libanon tätig. Sie konzentrieren sich auf die Bereitstellung von erzieherischen, humanitären und sozialen Diensten auf allen Ebenen. Sie arbeiten eng mit lokalen und internationalen Gemeinschaften zusammen und sind tief in den libanesischen Kontext eingebettet, um Gemeinschaften zu helfen, die mit Herausforderungen wie Armut, Konflikten und Vertreibung konfrontiert sind. Die Kongregation ist ein integraler Bestandteil des sozialen Gefüges im Libanon, insbesondere in Gebieten, die von Krisen schwer betroffen sind.
Was hat sich in dieser Zeit verändert? Was hat sich verbessert, in welchen Bereichen hat sich die Situation verschärft?
Was heisst schon besser oder schlechter? Während es in bestimmten Bereichen wie dem Gesundheits- und Bildungswesen dank der Arbeit von Organisationen wie unserer Kongregation zu Verbesserungen gekommen ist, hat sich die wirtschaftliche und politische Lage insgesamt verschlechtert. Korruption und Ineffizienz in der Verwaltung haben es schwieriger gemacht, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, und das öffentliche Vertrauen in die politischen Institutionen ist geschwächt. In jüngster Zeit hat sich die Situation verschärft, insbesondere nach der Explosion des Beiruter Hafens und dem Zustrom von Vertriebenen infolge des israelischen Krieges. Diese Ereignisse haben die Ressourcen und die Infrastruktur des Libanon stark beansprucht.
Welche Auswirkungen hat das auf das Leben der Menschen?
Der anhaltende wirtschaftliche Zusammenbruch, die politische Zersplitterung und die regionalen Konflikte haben das tägliche Leben sowohl für die Einheimischen als auch für die Vertriebenen immer schwieriger gemacht. Die hohe Arbeitslosigkeit, die steigende Inflation und die Verschlechterung der Grundversorgung haben die Notlage weiter verschärft. Trotz dieser Herausforderungen gibt es in der Bevölkerung nach wie vor einen starken Geist der Resilienz und der Gemeinschaft.
Konnten Sie hier Abhilfe schaffen?
Mit unseren Programmen konnten wir etwas Abhilfe schaffen, indem wir Bildung, Gesundheitsfürsorge und psychosoziale Unterstützung für Kinder und Frauen anbieten. Die Gesamtsituation hat sich jedoch weiter verschlechtert, insbesondere im Hinblick auf die Infrastruktur und die wirtschaftliche Stabilität.
Glauben Sie an eine Lösung der Konflikte im Nahen Osten?
Die Situation ist zwar komplex und es gibt viele politische und soziale Hindernisse, aber wir glauben, dass Frieden möglich ist. Eine dauerhafte Lösung erfordert Dialog, gegenseitiges Verständnis und Respekt für die Vielfalt. Als Religionsgemeinschaft setzen wir uns sehr für die Förderung des interreligiösen Dialogs und friedensstiftende Massnahmen ein und sind uns bewusst, dass Zusammenarbeit und Verständnis für die Lösung von Konflikten in der Region unerlässlich sind.
Ihrer Meinung nach: Was brauchen die Menschen vor allem?
Die Menschen im Libanon und in der gesamten Region brauchen vor allem Stabilität, Sicherheit und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Grundlegende Bedürfnisse wie Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung sind von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus benötigen viele Menschen aufgrund der Traumata, die durch politische Instabilität, regionale Konflikte und wirtschaftliche Not entstanden sind, emotionale und psychologische Unterstützung. Vor allem brauchen sie das Mitgefühl und die Solidarität der internationalen Gemeinschaft, damit sie ihr Leben wiederaufbauen können.
Wie wirkt sich die Religion auf das Zusammenleben der Menschen im Alltag aus?
Die Religion spielt im Libanon eine wichtige Rolle, da es sich um ein Land mit einer komplexen religiösen und konfessionellen Landschaft handelt, zu der Christen und Muslime gehören. Religion kann zwar in vielen Teilen der Gesellschaft Frieden und Koexistenz fördern, sie kann aber auch zu konfessionellen Spannungen und Diskriminierung führen, insbesondere wenn sich Politik und religiöse Identität überschneiden. Das politische System des Libanon basiert auf konfessionellen Quoten, was Spaltungen und Ungleichheit noch verschärfen kann. Dennoch gibt es viele Bereiche, vor allem in der humanitären Arbeit, in denen das Zusammenleben friedlich funktioniert und der interreligiöse Dialog gefördert wird.
Was ist Ihre persönliche Motivation?
Unsere Motivation ist es, dem Beispiel unserer Gründerin, der heiligen Claudine Thévenet, zu folgen, die ihr Leben der Aufgabe widmete, die Menschen zur Erkenntnis der Güte Gottes zu erziehen, Jesus und Maria bekannt und beliebt zu machen und den Bedürftigsten zu dienen. Unser Engagement für die Werte der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens ist unser Antrieb.
Was wünschen Sie sich für die Menschen in dieser Region?
Auf regionaler Ebene wünschen wir uns für die Menschen im Libanon und in der umliegenden Region dauerhaften Frieden, Stabilität und Wohlstand. Wir hoffen auf eine Zukunft, in der die Menschen unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft in Harmonie zusammenleben können und gleichen Zugang zu den Ressourcen und Chancen haben, die sie für ihr Wohlergehen benötigen. Wir sehnen uns auch nach Heilung und Versöhnung in einer Region, die viel Leid ertragen musste.
Auf persönlicher und individueller Ebene wünschen wir uns vor allem die Verwirklichung der grundlegenden Menschenrechte. Dazu gehören der Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge, Versicherung, Beschäftigung, Wohnung, Ernährung, Sicherheit, Gleichheit und persönlicher Freiheit – Rechte, die jeder Mensch für ein Leben in Würde und Wohlstand verdient.
Was können wir als Menschen, die weit weg leben, tun?
Sie können die Arbeit unserer Kongregation unterstützen, indem Sie das Bewusstsein für die Herausforderungen im Libanon schärfen. Ihre Gebete sind unser wichtigstes Anliegen bei der Unterstützung humanitärer Bemühungen. Neben freiwilligem Engagement und finanzieller Unterstützung können Menschen helfen, indem sie sich für die Friedenskonsolidierung und den interreligiösen Dialog einsetzen und so ein besseres Verständnis für die Komplexität der Region fördern.
Die Ordensfrauen von Jesus und Maria sind eine internationale Gemeinschaft von Frauen in 29 Ländern, die sich dem Dienst an der Kirche verschrieben haben, indem sie die frohe Botschaft verbreiten und sich um die Jugend und die Kinder kümmern, inspiriert durch das Beispiel ihrer Gründerin, der heiligen Claudine Thévenet. Die Kongregation wurde am 6. Oktober 1818 in Lyon, Frankreich, gegründet, hat päpstliche Rechte und ist in der ignatianischen Spiritualität verwurzelt. Seit 1963 sind die Schwestern im Libanon tätig.