Die Gabe der Tränen

Jonathan Gardy schreibt im "BärnerBär" übers Weinen

Ob beim Putzen, beim Schwumm in der Aare oder zur Stromerzeugung: Fliessendes Wasser hat Kraft.

Auf dem Friedhof fliessen nicht immer Tränen. Beerdigungen sind ernste, meist auch traurige Anlässe – aber dass die Anwesenden weinen, ist gar nicht selbstverständlich. Je nach Persönlichkeit und kulturellem Hintergrund tun sich viele nicht leicht, ihren Kummer auszudrücken – obwohl sie es vielleicht gerne würden. Männer haben es besonders schwer. Ihnen brachte man früher bei: «Giele gränne nid!». Es galt als stark, keine unangenehmen Gefühle zu zeigen. Das wirkt bis heute.

Aber wäre es nicht doch stärker, zur eigenen Trauer zu stehen? Spätestens am Grab ist sie dann ja ohnehin da, aber zum Weinen fehlt die Übung. Die Tränen können nicht fliessen. Stattdessen bleibt die Trauer in der Brust stecken oder schnürt einem die Kehle zu. Zu zweit fällt es leichter. Dann merke ich: Da hält jemand meine Hand, nimmt mich in den Arm und weint vielleicht sogar mit mir.

Nicht nur Kindern tut es gut, getröstet zu werden. Trösten ist einfach. Oft braucht es keine Worte, dasein genügt – bis die Tränen versiegen. Danach geht es einem meist besser als vorher. Auch wenn es zuerst schwerfällt: Weinen erleichtert. Die christliche Tradition kennt die «Gabe der Tränen». Frauen und Männer bitten um sie. Sie zeigen damit: «Ich bin verletzlich; ich möchte, dass jemand gut zu mir ist!» Nur wer seine Trauer zeigt, kann auch getröstet werden. Gleichzeitig macht der Trost eines anderen das Trauern einfacher. Dann kann das «Augenwasser» fliessen und seine lindernde Kraft entfalten.

Jonathan Gardy, Pfarrei-Seelsorger in Ostermundigen - diese Woche im "Bärner Bär" - weitere Kolumnen verschiedener Autor:innen finden Sie regelmässig hier.

 

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