Foto: Joachim Francini, Mayen

Gottes altes Lied (Theres Spirig-Huber)

Du
Sollst dich selbst unterbrechen
Zwischen
Arbeiten und Konsumieren
Soll Stille sein und Freude
Zwischen
Aufräumen und Vorbereiten
Sollst du es in dir singen hören
Gottes altes Lied
Von den sechs Tagen
Und dem einen, der anders ist
Zwischen Wegschaffen und Vorplanen
Sollst du dich erinnern
An diesen ersten Morgen
Deinen und aller Anfang
Als die Sonne aufging
Ohne Zweck
Und du Nicht berechnet wurdest
In der Zeit
die niemandem gehört
Ausser dem Ewigen.

Dorothee Sölle

 

Unsere Töchter waren noch klein, als wir im Tessin in den Ferien waren. Da entdeckte Judith beim Picknicken am Bach eine Raupe. Sie war hin und weg. Weder Essen noch Locken zum Aufbruch konnten sie vom Begegnen mit der Raupe auf ihrem Arm abbringen. Die Raupe sollte gar mitkommen. Schliesslich half ein spontan erfundenes Abschiedslied, die Raupe sorgfältig ins Gras zu legen und ohne sie weiterzugehen.

Für mich ist dieses Erlebnis noch immer ein Paradebeispiel für Unterbrechen im Sinn von Dorothee Sölle. Unterbrechen als kürzeste Definition von Spiritualität. In den Klöstern unterbrechen Nonnen und Mönche ihren Tag sieben Mal, „um Gott zu loben“, um die Alltagslogik, die Zwecklogik, die uns so schnell im Griff hat, zu unterbrechen – die Logik, dass Essen wichtiger ist als eine Raupe, jedoch auch, dass ich mitnehmen, in Besitz nehmen kann, was mir Freude macht oder gefällt.

Die Erfahrung mit Judith und der Raupe lehrt mich, mich unterbrechen zu lassen, um auf das Leben selber zu hören und mich in der Logik des Herzens neu auszurichten.

Ich wünsche mir und Ihnen viele Unterbrechungen, die Neues oder Altes aufleuchten lassen, Gottes altes Lied zum Klingen bringen.

 

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