Stadtführer*innen des Vereins Surprise, Foto: Ruben Hollinger

«Ich habe mich nie arm gefühlt. Ich habe nur wenig Geld gehabt.»

Obdachlose in Bern - Eveline Sagna von der FASA berichtet.

«Armut ist für mich, wenn man durch wenig Geld den Mut verliert, mit Menschen zu kommunizieren», meint Roger, der mehr als 20 Jahre auf den Strassen Berns verbracht hat. «Armut fängt an, wenn man sich in seine eigene kleine Welt zurückzieht. Solange du deine eigenen sozialen Kontakte hast, hast du einfach nur wenig Geld.»

Von Betroffenen lernen

Roger ist vor wenigen Tagen zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit in eine eigene Wohnung gezogen. Vorher hat er sich jahrelang als Obdachloser in der Stadt Bern durchgeschlagen. Er bezeichnet sich als einer jener Obdachlosen, die man nicht sieht. Immer sauber angezogen und arbeitstätig fiel er niemandem auf. Seit drei Jahren arbeitet Roger nun für den Verein Surprise – zuerst als Verkäufer des Strassenmagazins, seit einigen Monaten als Führer von Stadtrundgängen zum Thema Armut.

Zusammen mit zwei Kolleg*innen und Helen Kilchhofer, Sozialarbeiterin beim Verein Surprise, berichtet Roger an diesem Nachmittag von seinen Erfahrungen «mit wenig Geld». Peter Kobi, Koordinator der Obdachlosenhilfe, kommentiert die Beiträge aus städtischer Perspektive. Organisiert wurde der Anlass für die Sozialarbeitenden und freiwilligen Mitarbeitenden der pfarreilichen Beratungsdienste zur Weiterbildung. «Lernen von Armutsexpert*innen» so das Motto.

Obdachlos in Bern

In der Schweiz leben 1.2 Millionen von Armut betroffene oder gefährdete Menschen. Das Thema ist auch im Wohlstandsland Schweiz aktuell. Für Städte in der Schweiz sei es jedoch schwierig, die Anzahl der obdachlosen Menschen festzustellen, meint Peter Kobi. Der Stadt Bern sei es aber ein Anliegen, ausreichend Notwohnangebote zur Verfügung zu stellen. Dies gelinge aus Sicht des städtischen Sozialamtes zu grossen Teilen.

Es fehle jedoch an Notschlafplätzen und Unterstützungsangebote für Frauen, berichtet Franziska aus eigener Erfahrung. «Für mich wären konkretere, individuelle Hilfeleistungen wichtig gewesen, z.B. Unterstützung bei der Wohnungssuche, Vernetzung zu Zusatzverdienstmöglichkeiten oder Tipps zu Selbsthilfegruppen.»

Was ist echte Hilfe?

Wie sie ihre Klient*innen adäquat unterstützen können, diese Frage beschäftigt die Sozialarbeitenden aus den Pfarreien tagtäglich. «Hilfe darf nicht aufgezwungen werden. Echte Hilfe ist, wenn ich mich nachher nicht schlecht fühlen muss, weil ich daran erinnert werde, dass ich etwas schuldig bin», meint Roger. Ausserdem sei es wichtig, sich dem Tempo der Hilfesuchenden anzupassen, bezeugen auch seine beiden Kolleg*innen. «Wenn es zu schnell geht, sind wir überfordert. Bei uns funktioniert es nur dann, wenn es passt. Manchmal muss man uns Zeit lassen. Auffordern und Druck machen ist absolut negativ.»

Zuhören

Für Menschen wie Roger, Franziska und Negussie stellen sich die Herausforderungen des Lebens Tag für Tag von neuem. Wie sie es schaffen? «Ich sehe es als Spiel. Ich stehe am Morgen auf und somit beginnt das Spiel. Das Spiel dauert genau einen Tag lang. Am Abend ist das Spiel zu Ende und am nächsten Tag fängt wieder ein neues an», berichtet Roger. Alle drei haben beim Verein Surprise eine Möglichkeit gefunden, aktiv zu werden und etwas Geld zu verdienen.

«Was wir tun können, ist zuhören», sagt Helen Kilchhofer vom Verein Surprise. «Wir alle wissen selber am besten, was wir brauchen, wer wir sind und wohin wir wollen. Unsere Vorstellungen anderen aufzuzwingen, schwächt die Betroffenen.» Staatliche Unterstützungsangebote bieten diesbezüglich eine begrenzte Flexibilität und Zeit. Als grosse Chance der kirchlichen Sozialdienste sieht Helen Kilchhofer, dass diese mehr auf die Individualität und die spezifischen Bedürfnisse der Menschen eingehen können.

Eveline Sagna

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