Ich wäre ­gerne eine Büroklammer

Menschen beim Namen nennen

Allein in diesem Jahr sind im Mittelmeer bereits mehr als 630 Menschen ertrunken - auf der Flucht nach Europa. Ein Beitrag der Zeitschrift "Insieme" der Berner Missione Cattolica erinnert zum kommenden Flüchtlingstag an diese Menschen.

Stille. Eine kieselige Stimme spricht Namen aus. Ahmed, Abdul, Aisha. Sie durchbrechen die Stille, markieren eine unendliche Zeit. Als wären sie Glockenschläge, Sandkörner einer Sanduhr. Ein Korn, eine Sekunde. Ein Name, ein Leben.

Ich öffne meine Augen. Ich sitze auf der kühlen Holzbank der Heiliggeistkirche in Bern. Im Halbdunkel kann ich die Menschen um mich herum sehen, die in eigenen Gedanken verstrickt sind, sie lesen und schreiben. Stille. Bilal, Bouacha, Buy ... Die Körner fallen weiter in der Sanduhr. Die Namen steigen hinab, vom Kopf zum ­Herzen. Hunderte, Tausende von Namen werden vorgelesen. Eine meterlange Liste. Die Namen von Männern, Frauen und Kindern, die ihr Leben beim Versuch verloren haben, das Mittelmeer zu überqueren, auf der Flucht vor Krieg, auf der Suche nach Sicherheit. Viele dieser Flüchtlinge hätten nach der Genfer Konvention von 1951 das Recht gehabt, von der internationalen Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Doch allzu oft sind sie gezwungen, unter unmenschlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern zu leben. Oder sie verlieren auf ihrer gefährlichen Reise ihr Leben oder werden an den Grenzen Europas zurückgewiesen.

Ich nehme die drei Zettel, auf die ich in wackligen Buchstaben drei Namen geschrieben habe und verlasse die Kirche. Die Sonne blendet auf der Türschwelle, das Leben der Stadt erscheint vor mir. Trams kündigen ihre Abfahrt mit typischem Klingeln an, zwei Damen unterhalten sich fröhlich vor einer Tasse Kaffee und eine undeutliche Musik ertönt bei jungen Leuten auf der anderen Strassenseite. Ein starker Kontrast zur Atmosphäre des Ortes, den ich gerade verlassen habe.

Die Dame neben mir lächelt, ich reiche ihr meine Zettel. Sie hält sie einen Moment in der Hand, nimmt drei Büroklammern vom Tisch und ordnet meine Zettel auf einem Draht an der Kirche. Es ist eine einfache Geste, aber irgendwie heilig. Denn das Leben ist heilig. Diese drei Zettel, die jetzt die Fassade der Kirche im Zentrum von Bern zieren, stehen für drei zerbrochene Leben, drei abgebrochene Romane, drei nie vollendete Lieder. Die Geschichten von Ahmed, Abdul und Aisha, die im Mittelmeer landeten. Meine Fähnchen gesellen sich zu den Hunderten, die inzwischen die gesamte Kirche bedecken.

Jedes Jahr zum Weltflüchtlingstag organisieren die Offene Kirche Bern, SOS Méditerranée und viele Berner Kirchgemeinden die Veranstaltung "Beim Namen nennen". Die Heiliggeistkirche beim Hauptbahnhof ist mit Tausenden der Papierstreifen bedeckt. Letztes Jahr habe ich beschlossen, hineinzugehen und mit eigenen Augen zu sehen, was es damit auf sich hat: ein aufrüttelndes und beeindruckendes Erlebnis. Neben der Veranstaltung in Bern werden 2021 auch in Basel, Chur, Genf, Lausanne, Luzern, Neuchâtel, St. Gallen und Zürich solche Anlässe stattfinden. Ziel ist es, den Menschen vor Augen zu führen, was im Mittelmeer in der Verantwortung der europäischen Länder geschieht. Die Organisationen wollen das Bewusstsein schärfen und die Geschichte der Opfer erzählen, und sei es nur durch Nennung ihrer Namen, damit sie nicht länger nur Nummern bleiben.

Laut der Liste der Todesfälle beträgt die Gesamtzahl der Toten und Vermissten im Mittelmeer von 1993 bis 2020 40 555 Personen. Eine grobe Schätzung. Die Zahlen steigen. Doch hinter jeder Zahl steckt eine Person, ein Leben mit zerbrochenen Träumen und Hoffnungen. Jeder Mensch hinterlässt eine Familie im Herkunftsland, die wahrscheinlich nie erfahren wird, was mit ihrem Kind, ihrer Schwester oder ihrem Mann geschehen ist.

Genau hier liegt die Stärke von "Beim Namen nennen": Die Namen der Opfer, die bei der Überfahrt über das Mittelmeer zu Tode gekommen sind, werden von Freiwilligen vorgelesen und hallen von den Wänden der Kirche in den Köpfen der Anwesenden wider.

Das Organisationskomitee setzt sich aus kirchlichen und nichtstaatlichen Organisationen zusammen, ohne politische Färbung. Der Staat ist frei, seine Migrationspolitik zu wählen, wie er es für richtig hält, aber unter keinen Umständen sollte es eine politische Debatte über die Rettung von Leben geben. Ein Leben in Gefahr muss zuallererst gerettet werden, unabhängig von der politischen Farbe, denn das Leben hat keine Farbe. Weder Rot noch Grün. Die Farbe des Lebens ist weiss. Weiss, das nach der Physik das Vorhandensein und die Summe aller Farben ist, ohne Ausnahme. Weiss wie die Farbe des Lichts. Makellos weiss, wie diese kleinen Blätter bleiben sollten, ohne Buchstaben der Namen von Menschen, die bei dem Versuch, sich zu retten, ihr Leben verloren haben.

Schüler*innen, Büroangestellte in der Mittagspause und Passant*innen werfen neugierige Blicke auf die mit Papierstreifen bedeckte Kirche. Auch meine drei Zettel flattern nun im Juni-Wind, festgehalten mit einer dünnen Büroklammer. Sie ermöglicht, dass die Papierstreifen am Draht hängen bleiben. Wer durch die Innenstadt geht, bekommt die Ungeheuerlichkeit der Tragödie vor Augen geführt. Auch ich möchte eine dieser Büroklammern sein, um die Erinnerung an das Geschehen im Mittelmeer festzuhalten und zu verhindern, dass die leichte Brise unserer täglichen Sorgen die unermessliche Tragödie verdrängt und verharmlost, die sich im "Mare Nostrum" (unserem Meer) abspielt. Jeden Tag.

Luca Nicola Panarese

www.beimnamennennen.ch

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