Menschen, die zueinander schauen

Albrecht Herrmann und Cornelia Born zur "Sorgenden Gemeinde Belp"

Was bis vor ein, zwei Generationen selbstverständlich war, soll es wieder werden: dass Menschen einander unterstützen. Die katholische Kirche fördert Begegnungen, damit Belp zu einer "Sorgenden Gemeinde" wird.

Ältere Menschen hüten für einen Nachmittag die Kinder der Nachbarin oder helfen Flüchtlingskindern bei den Aufgaben. Jüngere begleiten eine betagte Frau zum Arzt oder kaufen für den alten Nachbarn ein. Und all dies ohne dass eine Organisation vermittelt. Die Basis ist allein das nachbarschaftliche Verhältnis von Menschen, denen es nicht egal ist, was um sie herum passiert. So stellt sich die Arbeitsgruppe "Sorgende Gemeinde Belp" das Zusammenleben im Dorf vor.

Doch Hilfe anbieten oder entgegennehmen werden nur Menschen, die einander kennen und einander vertrauen. "Es geht um einen Kulturwandel", sagt Albrecht Herrmann, Sozialarbeiter der Katholischen Pfarrei Belp, der für das Projekt einen Teil seiner Arbeitszeit einsetzt. Nämlich, dass man seine Nachbarn überhaupt erst wahrnimmt, und dann auch kennenlernt. "Wer nur mit dem Auto in die Tiefgarage und mit dem Lift in die Wohnung fährt, merkt kaum, dass er oder sie Nachbarn hat."

Zäune abbrechen

Die "Sorgende Gemeinde Belp" ist kein Verein, kennt keine Statuten und hat keine Mitglieder, die Dienstleistungen für andere erbringen. Der Begriff Spurgruppe trifft es besser. Engagierte Personen aus Kirchen, Altersarbeit, Sozialwesen und Politik überlegen gemeinsam, was es den Menschen erleichtert, aufeinander zuzugehen. Denn darum geht es: Menschen zusammenzubringen, damit gegenseitiges Geben und Nehmen möglich wird. So wie im letzten Jahr, als während des Corona-Lockdowns viele jüngere Menschen in Belp ganz selbstverständlich für die älteren einkaufen gingen.

Manchmal sind es einfache Dinge, die grosse Wirkung entfalten. Beispielsweise der Spielplatz zwischen dem Schloss Belp und dem Schulhaus. Hier lernen sich Kinder, Eltern und Grosseltern auf unkomplizierte Weise kennen, unabhängig von Alter, sozialem Status oder Hautfarbe. Das Spielmobil am Rande des Spielplatzes wurde ursprünglich von der katholischen Kirche betrieben. Inzwischen hat die Gemeinde das Projekt übernommen und lädt Belperinnen und Belper an vier Nachmittagen die Woche zum Spielen ein.

Wo - im wörtlichen wie im übertragenen Sinn - Zäune abgebrochen und Brücken gebaut werden, kommen die Menschen zueinander. Wo Sitzbänke stehen, kommen die Leute zum Plaudern. "Es braucht Orte, die dem Profit entzogen werden und einfach den Menschen zur Verfügung stehen", sagt Herrmann. "Denn wenn Menschen sich kennen, trauen sie sich eher, einander um Hilfe zu fragen oder Hilfe anzubieten."

Alle können etwas geben

Ursprünglich waren Sorgende Gemeinden (Caring Communities) ein Modell aus den USA, um Menschen mit Behinderung gleichberechtigt in die Gesellschaft einzugliedern. In Belp geht die Spurgruppe davon aus, dass jeder Mensch der Gesellschaft etwas geben kann. Noch bis Frühjahr nächsten Jahres läuft die Sorgende Gemeinde Belp als Projekt des Nationalfonds. Die Verantwortlichen sind sich aber einig, dass es danach weitergeführt werden soll.

Angesichts der älter werdenden Gesellschaft wird der haushälterische Umgang mit den Finanzen wichtiger. Das Pflegepersonal in Heimen, Spitälern und bei der Spitex sorgt zwar für eine gute Versorgung älterer Menschen. Doch es steht unter Druck. Die Zeit ist knapp, auf der Strecke bleibt oft der persönliche Kontakt.

Doch der Mensch lebt nicht vom Brot - und Medikamenten - allein, sondern auch von Beziehungen. Seniorinnen und Senioren kommen dabei oft zu kurz. Das Ziel Sorgender Gemeinden ist nicht, die Arbeit professioneller Stellen zu konkurrenzieren oder Geld zu sparen. Sie wollen vielmehr nachbarschaftliche Hilfe fördern, welche die Profi-Arbeit ergänzen und Lücken schliessen soll.

Es braucht Mentalitätswandel

"Jeder Mensch kann in die Lage kommen, dass er Unterstützung braucht", betont Albrecht Herrmann. Hilfe fliesst darum nicht einseitig von den Jüngeren zu den Älteren, sondern ebenso in umgekehrter Richtung. Ältere Menschen können etwa eine Rolle als "Adoptiv-Grosseltern" übernehmen, Migrantinnen und Migranten helfen, sich in der Schweiz zurecht zu finden oder jüngere Menschen an ihrer Lebenserfahrung teilhaben lassen.

"Die Leute sind offen für die Idee", hat Cornelia Born wiederholt erfahren. Sie leitet den Eltern-Kind-Treff der Katholischen Pfarrei Belp und engagiert sich sowohl für die Sorgende Gemeinde als auch in der Kommission für Liegenschaften, Sport und Freizeit der Gemeinde Belp. Die nachbarschaftlichen Beziehungen liessen sich mit wenig Aufwand verbessern, ist sie überzeugt. Doch lässt sich die typisch schweizerische Einstellung, einander ja nichts schuldig bleiben zu wollen, ohne weiteres überwinden? "Dafür braucht es einen Mentalitätswandel, das geht nicht in zwei Jahren."

Thomas Uhland

 

Gemeinschaftliches Zusammenleben und gegenseitige Hilfe - öffentliches Referat und Diskussion mit Prof. Dr. Ulrich Otto, Tübingen, Sozialgerontologe mit Forschungsschwerpunkt Wohnen und Leben im Alter - Dienstag, 19. Oktober, 19 Uhr, Aaresaal, Dorfzentrum Belp

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