Romreise - SCALA SANTA - Alex. L. Maier

Wenn einer eine Reise tut...

Aus Jerusalem brachten Kreuzfahrer sie nach Rom, die viermal sieben Marmorstufen vom Palaste des Pilatus, über die der Herr wandelte. Nun streben sie seit Jahrhunderten durch die goldene Dämmerung schmaler, hoher Wölbung empor, dem tiefleuchtenden Kruzifix zu.
Und wen nach der höchsten Gnade verlangt, der ersteigt im Gebet die Heilige Treppe. Kniend, denn keines Menschen Fuss soll die Stufen betreten, die den Herrn trugen.

Drei Frauen sah ich zu Rom die Heilige Treppe erklimmen. 

Die eine war noch so jung, dass ihre Wangen unter dem Schleiertuch in kindlicher Rundung blühten, aber ihre Augen strahlten vom Glück erfüllter Liebe, und während sie in frommer Eile dem heiligen Bild entgegenhuschte, gingen heimliche Blicke immer wieder nach dem Treppenfuss zurück, wo der Geliebte lächelnd ihrer harrte.

Langsam und schwer erstritt die Zweite den heiligen Weg, als ob sie über jeder Stufe zusammenbrechen müsste, denn ihre Arme hielten ein todblasses Kind umklammert, und durch ihre gläubige Inbrunst schlug der Schmerz, und fordernde Angst zermürbte die junge Stirne.

Aber wie von unsichtbaren Armen aufwärts gezogen, stet und gross glitt die Dritte empor, und ihre Augen umfassten das Bild des Gekreuzigten. Das Haar auf der klaren Stirne schimmerte silbern, und ihr vom Leben und Leiden geadeltes Antlitz erglänzte also in Heiterkeit und grenzenloser Liebe, dass man zu ihr hätte sprechen mögen: Stehe auf, dein Fuss ist des geweihten Bodens wert.

Drei Frauen sah ich auf der heiligen Treppe des Lebens …

[Maria Waser (1878-1939): Scala Santa. Zürich 1918, S. 7.]

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