Santiago, die Geisterkatze oder Wuscheli - die Geschichte der Streunerkatze bei der spanischen Mission in Ostermundigen.

Santiago

Eine schnurrende Adventsgeschichte aus der spanischen Mission in Ostermundigen.

Eine schnurrende Adventsgeschichte aus der spanischen Mission in Ostermundigen

In der spanischsprachigen Mission in Ostermundigen lief uns vor über drei Jahren ein wunderschöner Kater zu, mit langem grau-weissen Fell. Unser Padre Oscar taufte ihn Santiago. Der Kater war gegenüber den Besucherinnen und Besucher der Kirche sehr zutraulich. Mehrmals täglich kam er grüssend vorbei und verschwand dann wieder. So wuchs uns Santiago mehr und mehr ans Herz. Manche gaben ihm nach dem Sonntagskaffee etwas zum Essen. Auch bei den Basar-Festen oder Mittagessen in der Mission bekam er natürlich ein Häppchen.

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Als Katzenliebhaberin machte ich mir allerdings etwas Sorgen um Santiago. Ich fragte in der Nachbarschaft, ob ihn jemand kenne? Ich hörte allerlei Geschichten, aber keine überzeugte mich. Mir wurde klar: Der Kater gehörte niemandem, und er ist hungrig. So übernahm ich die Verpflegung von Santiago. Padre Oscar war am Anfang von der „Adoption“ nicht wirklich begeistert – immerhin hat er eine Katzenallergie. Doch Santiago weiss, wie er Menschen erobern kann. Schon bald konnten wir alle nicht mehr von der Katze loslassen.

Der Winter stellte uns vor eine weitere Herausforderung. Wenn es geschneit hatte, liess sich der Kater einige Tage nicht blicken. Ich stellte ein kleines Kaninchenhaus in den Garten. Trotz der Kälte traute sich Santiago nicht, dort reinzugehen. Als wir in die Ferien fuhren, sprachen wir uns ab, wer sich um die Katze kümmert. Aber manchmal musste sie wohl hungern, wenn niemand da war. Santiago nahm uns das wohl übel. Als wir aus dem Urlaub heimkehrten, wollte er uns tagelang nicht mehr begrüssen.

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Wir waren nicht die einzigen Freunde von Santiago. Ein älterer Herr aus Ostermundigen besuchte die Samtpfote jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit und nach Hause. Jeweils Punkt 19 Uhr wartete das stolze Fellohr auf einer kleinen Mauer neben der Kirche auf seinen Freund Olivier. Oft machte ich zu dieser Zeit Feierabend und konnte so eine besondere Freundschaft beobachten. Das dauerte viele Monate, aber ins Gespräch kamen wir nie. Offensichtlich hatte der Mann eine enge Beziehung zu dem Kater – und ich wollte mich nicht einmischen. Eines Tages beobachtete ich, dass der Herr in seiner Tasche eine Packung Trockenfutter mittrug. So sprach ich ihn an, ob er sich vielleicht um Santiago kümmern könnte, wenn wir abwesend seien. Ich war überrascht, dass er mir sofort seine Adresse und Telefonnummer gab. Gerne würde er sich um die „Geisterkatze“ kümmern. Ich zeigte ihm das Kaninchenhaus mit Futter und Futternäpfen. Olivier war kein Besucher unserer Kirche, denn er gehört zur französischsprachigen Paroisse bei der Dreifaltigkeitskirche in Bern. Bald sei er pensioniert und könne für die Katze sorgen. Er wohne nicht weit weg.

So bekam Santiago während des letzten Jahres regelmässig Betreuung. Ich war erleichtert, dass Olivier sich um die „Geisterkatze“ kümmerte. Natürlich stellte sich die Frage, ob Santiago vielleicht doch jemandem gehörte? Vielleicht spielte er nur mit uns, um eine Extra-Portion zu bekommen? Andrerseits war er vor zwei Jahren im Winter kränklich und abgemagert nach längerer Abwesenheit zurückgekommen. Sein Fell steckte voller Knoten, er wirkte ängstlich, unsicher und misstrauisch – und vor allem hungrig. Als er hörte, dass ich meinen Schlüsselbund hervornahm, um die Haustür zu öffnen, sprang er aus einem Busch heraus und biss mich in den Fuss. Als wollte er mir sagen: „Ich habe richtig Hunger!“ Als Pater Oscar und ich Santiago in diesem Zustand sahen, zog es uns das Herz zusammen. Das war für mich der Beweis, dass die Geisterkatze niemanden hatte ausser uns. Auch in den Internetportalen für vermisste Haustiere hatte ich keine Spur zu ihm gefunden.

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So entschloss ich mich, ein Halsband zu kaufen. Darauf schrieb ich meine Telefonnummer. Falls der Kater ein Zuhause hatte, würde mich jemand anrufen. Doch wie kriegte ich das Halsband an seinen Hals? Santiago liess sich nicht auf den Arm nehmen und wehrte sich mit scharfen Krallen. So lockte ich ihn mit der Haarbürste. Er liebt es, gekämmt zu werden, weil er ein langes Fell hat. So schaffte ich es schliesslich, das Halsband anzulegen. Aber zwei Tage später war es weg. Nach ein paar Monaten versuchte ich es erneut. Diesmal trug er das Bändchen sehr lange. Doch nie kam ein Anruf. Santiago hatte keinen Besitzer.

Olivier unternahm ebenfalls Nachforschungen und knipste viele Fotos der Geisterkatze. Wir machten uns Sorgen um ihren Gesundheitszustand, sie müsste doch mal geimpft werden. Aber es war unmöglich, Santiago zum Tierarzt zu zwingen. Ich erkundigte mich nach fahrenden Tierärzten und Olivier vereinbarte für den 7. September um 9 Uhr morgens einen Termin.

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Santiago wartete bei uns oft auf Frühstück. Leider hatte es in der Nacht geregnet – das passte ihm gar nicht. Am Morgen war es zum Glück wieder trocken. Der Kater stand wartend im Garten, als die Tierärztin ankam. Doch Olivier und die Tierärztin schafften es nicht, ihn aufzunehmen. So holte ich meinen Trick heraus, suchte die Haarbürste und lockte ihn. Langsam aber vorsichtig kam er auf mich zu, ich kämmte ihn liebevoll. Rasch streckte die Tierärztin das Chip-Lesegerät an den Hals der Katze. Überraschend zeigte es eine Nummer! Es gehörte doch jemandem! Und sie hatten ihn sogar gechippt! Die Tierärztin suchte im zuständigen Webportal nach dem Besitzer der Chipnummer. Wir konnten die Informationen kaum erwarten.

Die Registrierung zeigte an, dass die Katze „Wuscheli“ heisse. Es fühlte sich an, als wären verlorene Seiten aus einem Buch plötzlich wieder da. Wuscheli wurde am 28. August 2009 geboren und war im Portal als „Entlaufen“ gekennzeichnet. Ich bat die Tierärztin, die Besitzer anzurufen und ihnen alles zu erklären. Als sie die Telefonnummer wählte, konnte ich es vor Aufregung kaum mehr aushalten. Ich betete, jemand würde abnehmen. Tatsächlich antwortete auf der anderen Seite eine Herrenstimme.

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Herr und Frau Müller waren vom Anruf sehr überrascht. Nach einem kurzen Gespräch mit der Tierärztin stiegen sie ins Auto. Kaum zehn Minuten später erreichten sie die spanischsprachige Mission in Ostermundigen. Inzwischen waren viele Mitarbeitende im Garten versammelt, überrascht und berührt von den Neuigkeiten. Ich sah einen Wagen parkieren und lief hin. Ein älteres Paar stieg aus, mit zwei Fotoalben. Sie zeigten Fotos von Wuscheli als Babykatze mit ihrem Enkelkind, der damals ein kleiner Junge war. Die Fotos waren so bewegend, dass mir Tränen in die Augen stiegen.

Wuscheli war seit über acht Jahren verschwunden! Das brach mir das Herz. Der Kater sah auf den Fotos so glücklich, verwöhnt, gekuschelt und liebevoll behandelt aus! Doch er wurde zum Streuner, lebte acht Jahre in Kälte, hungrig, ängstlich, von fremden Menschen vielleicht verfolgt und vertrieben. Seine «Familie» hatte ihn trotz aufwendiger Suche nicht gefunden hatten und litt sehr unter dem Verlust des geliebten Haustieres.

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Nun kam Licht ins Dunkel. Da stand Wuscheli. Aufrecht, wachsam, neugierig. Er wusste, etwas Wichtiges war passiert. Alle schauten ihn an – er aber konnte dies nicht einordnen. Er hielt Distanz und überwachte jede Bewegung. Herr Müller näherte sich ihm vorsichtig. Immer wieder rief er: „Wuscheli? – Wuscheli?“ Lange Zeit hatte der Kater diesen Ruf nicht mehr gehört – doch bewegte seine Ohren, als würde er in Erinnerungen graben. Wuscheli schien den Herrn nicht zu erkennen, aber fremd war er auch nicht. Normalerweise liess der Kater keinen Mann in die Nähe – doch Herr Müller konnte einen Meter vor ihm stehen, ohne dass das Tier Reissaus nahm.

Herr Müller eilte zu seiner Frau auf dem Parkplatz und informierte sie. Nun kam auch sie angerannt und erblickte Wuscheli, wie er majestätisch da stand. Sie näherte sich und die Busle liess sich von ihr streicheln! Was für ein berührender Moment. Nach acht Jahren konnte sie die volle Pracht dieses erwachsenen Katers bewundern. Ergriffen sagte sie leise: „Ich konnte ihn streicheln“. Immer wieder öffneten sie die Fotoalben und zeigten uns, wie sie dieses Geschöpf so lieb hatten. Pater Oscar konnte es nicht fassen, Monica lächelte aufgeregt, Georgina schlug ergriffen die Hände vor das Gesicht, Olivier stand fassungslos da, ich kämpfte mit den Tränen.

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Bald holte uns die Realität ein. Müllers hatten wieder ein Büsi. Doch dieser Stubentiger war so dominant, dass sie Wuscheli nicht mitnehmen konnten. Sollte der Kater also trotz dieser liebevollen Familie weiterhin als Streuner leben? Olivier übernahm die Initiative und fragte, ob er die Katze adoptieren dürfe? Müllers freuten sich und übernahmen es, alles offiziell umzumelden. Berührt stellten sie fest, wie viel Glück Wuscheli in ihr Leben gebracht hatte.

Diese eigenständige Katze wird weiterhin ihr gewohntes Leben leben. Aber wir kennen nun ihre ehemalige Familie. Müllers wollen sie ab und zu in der Mission besuchen, auch mit ihrem Enkelkind. Und nach Oliviers Pensionierung lässt sich der Kater vielleicht mal zu ihm nach Hause einladen, wenn nötig mit Hilfe der Haarbürste. Was für eine Aufregung der Menschen mit der Geisterkatze Santiago Wuscheli ... Nur für sie hat sich eigentlich nichts geändert. Das Geschöpf mit seinem schönen Pelz liegt da und schnurrt.

 

Text: Eva Novell

Redaktion: Karl Johannes Rechsteiner

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