Leonardo Boff (Foto Daniel Bianchini)

Von der Fähigkeit eine andere Welt zu schaffen

Was uns das Coronavirus lehrt - Gedanken von Leonardo Boff aus Brasilien

Was uns das Coronavirus lehrt - Gedanken des Befreiungstheologen und Philosophen Leonardo Boff aus Brasilien. Seit seinen ersten Besuchen in Bern vor über 40 Jahren ist er eng mit der Bundesstadt verbunden. Diesen Text sandte er exklusiv an seine Bekannten beim Berner Pfarrblatt und der Stiftung Cooperaxion, die seine Projekte in Petrópolis unterstützt.

Brasilien ist im Kampf gegen das Coronavirus wohl in der ganzen Welt am schlechtesten gestellt. Jeden Tag sterben über tausend Personen, bald sind zwei Millionen Menschen infiziert. Bis Mitte Juli 2020 sind bereits 73'000 Menschen an der Pandemie gestorben.

Zum grossen Teil ist diese dramatische Situation Präsident Jair Bolsonaro zuzuschreiben. Er leugnet die Situation und betrachtet das Coronavirus – trotz der skandalösen Zahl der Opfer – als „kleine Grippe“ und „kollektive Hysterie“. Nie hat er sich mit den Familien und Verwandten der Opfer solidarisch gezeigt. Die meisten Analytiker und Psychiater behaupten, nur ein Psychopath könne sich so benehmen. Für ihn ist es am wichtigsten, dass die Wirtschaft weiter produzieren kann. Leider wurde er noch nicht abgesetzt. Als Ex-Militär hat er mehr als 2’300 Militärs auf verschiedenen Ebenen der Regierung eingestellt und sich so abgesichert. Angesichts der zynischen Haltung des Präsidenten müssen wir in Brasilien wohl mit über 150'000 Opfern des Coronavirus rechnen. Das ist mehr als in einem Krieg. Trotz dieser Dezimierung unseres Volkes versuchen wir daraus eine Lehre zu ziehen.

Innehalten und Nachdenken

Die Pandemie zwingt uns zum Nachdenken. Was zählt wirklich: Leben oder materielle Güter? Zählt der Individualismus eines jeden für sich allein oder die Solidarität mit den anderen? Können wir die natürlichen Güter gedankenlos nutzen, um reicher und bequemer zu leben, oder müssen wir uns um die Natur, die Mutter Erde und ein gutes Leben für alle kümmern, wie es die Völker der Anden anstreben als Harmonie zwischen Menschen und Natur? Hat es sich jemals für kriegsliebende Länder gelohnt, Massenvernichtungswaffen anzuhäufen? Jetzt, wo ein unsichtbares Virus die Ineffizienz all der tödlichen Apparate offenbart? Können wir den konsumbetonten Lebensstil fortsetzen und grenzenlosen Reichtum auf Kosten von Millionen verarmter Menschen anhäufen? Ist es immer noch sinnvoll, dass jedes Land seine Souveränität bekräftigt, während wir globale Probleme lösen müssen? Warum kümmern wir uns immer noch nicht um unser gemeinsames Haus, die Mutter Erde, damit wir und die Natur darin Platz finden? Diesen Fragen können wir nicht ausweichen.

Einstein soll gesagt haben: "Die Weltsicht, die die Krise verursacht hat, kann nicht die gleiche sein wie die, die uns aus der Krise führt." So müssen wir uns drastisch ändern. Das Schlimmste wäre, wenn die konsumbetonte und spekulative Logik noch heftiger weiter bestände. Wenn wir nichts lernen, wird uns die Erde vielleicht ein weiteres Virus schicken, das dem katastrophalen menschlichen Projekt ein Ende setzen könnte. Doch es gibt andere Erkenntnisse und Blickwinkel aus dieser Pandemie.

1. Die echte menschliche Natur entdecken.

Wir Menschen sind Wesen in Beziehungen miteinander. Wir sind verknotet mit Beziehungen in alle Richtungen. Niemand ist eine Insel, und wir können Brücken in alle Richtungen bauen.

2. Wir sind alle aufeinander angewiesen

Der afrikanische Ausdruck "Ubuntu" meint: "Ich bin ich selbst durch dich". Folglich ist der Individualismus als Seele der kapitalistischen Kultur falsch und menschenfeindlich. Das Coronavirus beweist, dass die Gesundheit des einen von der Gesundheit des anderen abhängt. Ist uns diese Abhängigkeit bewusst, nennen wir es Solidarität. Sie hilft uns, menschlich zu werden, zusammenzuleben und einander zu helfen. In der Zeit mit dem Coronavirus sehen wir bewegende Gesten der Solidarität, wo nicht nur Überflüssiges gespendet, sondern geteilt wird, was man besitzt.

3. Wir sind fürsorgliche Wesen

Vom Augenblick der Zeugung an kann niemand ohne Fürsorge leben. Wir müssen uns sorgen: Für uns selbst – sonst könnten wir krank werden und sterben. Um die anderen – sie könnten mich retten oder ich könnte sie retten. Für die Natur – sonst können Viren, Dürren oder Überschwemmungen über uns kommen. Um Mutter Erde – damit sie uns alles gibt, was wir zum Leben brauchen, auch wenn wir sie seit Jahrhunderten erbarmungslos verwundet haben. Der Angriff des Coronavirus zeigt, dass wir alle uns um die Schwächsten sorgen müssen, soziale Distanz wahren und die Gesundheits-Infrastruktur pflegen, damit wir keine humanitäre Katastrophe biblischen Ausmasses erleben müssen.

4. Wir alle sind mitverantwortlich

Wir müssen uns der positiven oder böswilligen Folgen unserer Handlungen bewusst sein. Leben und Tod liegen in unseren Händen: Menschenleben, soziales, ökonomisches und kulturelles Leben. Es reicht nicht, dass der Staat Verantwortung zeigt. Wir alle sind betroffen, jeder kann den anderen schaden. Wir alle müssen die Ausgangssperre akzeptieren. Letztendlich sind wir spirituelle Wesen. Wir entdecken die Kraft der spirituellen Welt, die uns in der Tiefe ausmacht, wo grosse Träume geschaffen werden, wo die Fragen zum Sinn des Lebens entstehen und wo wir das Gefühl haben, dass es eine machtvolle spirituelle Energie gibt, die wir Gott nennen oder mit anderen Namen. Eine spirituelle Energie, die mit Solidarität, Achtsamkeit, Mitleid und Liebe verbunden ist. Sie hält den Sternenhimmel und unser eigenes Leben aufrecht.


So sind wir Menschen herausgefordert, uns dieser liebevollen Energie zu öffnen, darauf zu vertrauen, dass sie uns Geborgenheit verleiht und trotz aller Widersprüche ein gutes Ende für das ganze Universum garantiert: Für unsere Geschichte, die sowohl weise (sapiens) als auch verrückt (demens) ist, und für jeden von uns. Wenn wir diese spirituelle Welt kultivieren, fühlen wir uns stärker, fürsorglicher, liebevoller und schliesslich auch menschlicher.

So besitzen wir die Fähigkeit zu träumen und eine andere Art von Welt zu schaffen: eine Welt, die sich um das Leben dreht, mit einer Wirtschaft, die eine weltweite Gesellschaft unterstützt, die mehr durch Gefühle gestärkt wird als durch Verträge. Es könnte eine Gesellschaft der Fürsorge, der Sanftmut und der Lebensfreude sein. Das ist unsere Hoffnung und die Lehre aus dem Coronavirus.

 

Der Philosoph Leonardo Boff nennt sich heute Ökotheologe, als Mitglied der Erdcharta-Kommission engagiert er sich stark für Schöpfungsfragen. Die von ihm begründeten sozialen Projekte zum Beispiel mit Strassenkindern in Petrópolis in Brasilien werden von der Berner Stiftung Cooperaxion unterstützt:

www.cooperaxion.org

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