Fotos einer Ausstellung von SOS Mediterranee in Bern: Für die Geflüchteten selber sind die Erinnerungen nicht berührende Bilder, sondern belastende Traumata bei ihrem Leben in Bern.

Wenn das Trauma der Flucht nachwirkt

Projekt von Missione und katholischen Eritreern

Nach Krieg oder Verfolgung in der Heimat müssen geflüchtete Menschen oft Furchtbares durchmachen, das in der Schweiz nachwirkt. Ein gemeinsames Projekt der Berner Missione Cattolica di lingua Italiana und der eritreisch-katholischen Gemeinschaft will weiterhelfen.

Idris desertiert 18-jährig aus dem lebenslänglichen Nationaldienst voller Hunger und Entbehrungen in Eritrea. Unterwegs zur sudanesischen Grenze wird er verhaftet. Beim nächsten Versuch verschuldet sich seine Familie mit 2000 Dollar, damit ihn Schlepper in Richtung Europa weiterbringen. Bei halsbrecherischen Lastwagenfahrten durch die Sahara sterben Menschen neben ihm an Hitze und Durst. Eingesperrt in einem Container gelangt er nach Libyen in ein unmenschliches Flüchtlingslager. Nach weiteren Zahlungen folgt eines Nachts die Horror-Schifffahrt übers Mittelmeer nach Sizilien. Idris entgeht der Polizei und schafft es nach Mailand. Nach 15 Monaten Flucht stellt er in die Schweiz ein Asylgesuch ...

Depressionen und Alpträume

Gemäss Staatssekretariat für Migration SEM ist die Schweiz eines der wichtigsten Zielländer für eritreische Flüchtlinge, rund 30'000 Eritreer leben hier. Krieg und Flucht haben diese Menschen enormen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt:

• 70 % erlebten ein traumatisches Ereignis unterschiedlicher Schwere,

• 33 % wurden während ihrer Reise Opfer von Misshandlung,

• Folter in den Gefängnissen des Regimes hinterlässt Verletzungen,

• Frauen erleiden zusätzliche körperliche oder seelische Gewalt,

• Kinder und Heranwachsende erfahren Gewalt gegen sich, Familienangehörige oder Freunde.

So halten sich auch in der Region Bern Menschen auf, die mit schweren Folgen der traumatischen Erfahrungen, Angst und Albträumen leben müssen. Bei den Betroffenen führt dies oft zur Unfähigkeit für soziale Kontakte und zu einem Misstrauen gegenüber allem und jedem.

Eritreischer Hilferuf

2016 wandte sich der damalige Verantwortliche für die eritreisch-katholische Gemeinschaft in der Schweiz, Pater Mussie Zerai, mit einem Hilferuf an die Missione Cattolica di lingua Italiana (Missione) in Bern: Er bat um Hilfe für psychosoziale Betreuung für seine Landsleute, für Familien wie Alleinstehende in einer Notlage. Denn er begegnete Depressionen und Situationen häuslicher Gewalt oder sogar Selbstmordversuchen. Bei näherem Betrachten und durch Gespräche mit den Betroffenen kamen die Ursachen ans Licht: Unterdrückte Wut und Schmerz infolge der Erfahrungen auf der langen Flucht in die Schweiz. Nicht verarbeitete Gewalterlebnisse während der "Reise der Hoffnung" können bei den Betroffenen krankhafte Leiden entwickeln.

Vertrauenspersonen als Brückenbauer

Angesichts des Hilferufs wurden die Missione mit Unterstützung der Associazione Centro Familiare Emigrati ACFE (Berner Beratungsstelle für Migranten/Flüchtlinge mit 40-jähriger Erfahrung) und der aktuelle Seelsorger Pater Medhanie Ende 2018 aktiv. Sie riefen ein Projekt ins Leben, um die Begleitung von traumatisierten Flüchtlingen der eritreisch-katholischen Gemeinschaft Bern zu ermöglichen.

Ziel ist es, Vertrauenspersonen aus der eritreischen Gemeinschaft mit ihrer Sprache und ihrem kulturellen Hintergrund als Brückenbauer für bedürftige Landsleute auszubilden, um vorhandene medizinisch-therapeutische Angebote besser zu nutzen. Dafür setzt sich nun eine Arbeitsgruppe aus Psychologen des Centro Familiare, Seelsorgern und freiwilligen Helfern ein, die regelmässig Ausbildungstage durchführen. Über den Projektpool "Diakonie und Partizipation" erhält das Projekt finanzielle Unterstützung der Katholischen Kirche Region Bern.

Verantwortung übernehmen

Die Schulungen sollen die eritreischen Vertrauenspersonen bei der Informationsbeschaffung über das Gesundheits- und Schulsystem in der Schweiz, das Schweizer Recht, die lokalen Lebensgewohnheiten und die öffentlichen Dienstleistungen unterstützen. Weiter muss die einfühlsame Annäherung von psychisch geplagten Flüchtlingen angeeignet werden. Hier hilft auch das psychologische Fachwissen im Centro Familiare.

Die unterschiedliche Sprache und die Berücksichtigung kultureller Aspekte stellen die grössten Herausforderungen bei der Vermittlung dar. Eine Dolmetscherin übersetzt wichtige Schulungsunterlagen. Die kulturellen Besonderheiten gilt es während den verschiedenen Ausbildungsveranstaltungen nach und nach kennenzulernen.

Auch die in der Schweiz lebende eritreische Gemeinschaft wurde über das Projekt informiert und ermuntert, von psychischen Leiden betroffene Bekannte und Familienangehörige an die Vertrauenspersonen zu verweisen.

Zukunftsträchtiges Modell?

In einer nächsten Phase wird in Workshops über die Begegnungen von Betroffenen mit den Vertrauenspersonen ausgetauscht. Diese Erfahrungen und die Bedürfnisse der hilfesuchenden Flüchtlinge dienen als Standortbestimmung, um die Ausrichtung des Projekts zu überprüfen und anzupassen. In der Hoffnung, dass sich eritreische Flüchtlinge in Not von Vertrauenspersonen helfen lassen, dürfen positiven Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Betroffenen und ihrer Angehörigen erwartet werden. Dabei wäre es wünschenswert, dass sich diese Funktion auch ausserhalb der eritreischen Gemeinschaft als Modell etablieren könnte.

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