Pfarrer Nicolas Betticher - Foto Kath.ch

"Wir haben in der Kirche ein Machtproblem"

Radio Freiburg im Gespräch mit Nicola Betticher, Pfarrer von Bruder Klaus Bern

 

Radio Freiburg im Gespräch mit Nicola Betticher

Priester Nicolas Betticher (59) ist leitender Richter am interdiözesanen kirchlichen Gericht in Freiburg. Der Freiburger Jurist und Theologe hat zahlreiche kirchliche und politische Ämter bekleidet: Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz, CVP-Grossrat in Freiburg, Sprecher von CVP-Bundesrätin Ruth Metzler, Offizial und Generalvikar im Westschweizer Bistum, Assistent des Apostolischen Nuntius in Bern. Seit 2017 ist er Pfarrer in Bruder Klaus, Bern. Er gibt Einblicke darüber, welche Probleme es innerhalb der Katholischen Kirche gibt - und hat Ideen, wie man diese lösen könnte.

Interview von Radio Freiburg mit Nicolas Betticher vom 15. Oktober 2019

 

Zur Dokumentation hier zudem das Interview von Michael Meier vom 16. Juli 2019 mit Nicolas Betticher (Tages-Anzeiger, Berner Zeitung u.a.), das Aufsehen erregte.

«Erst dann könnten wir die Vertuschung bekämpfen»

Missbrauchsfälle in der Kirche werden heute zwingend der Justiz gemeldet. Kirchenintern ist hingegen primär der Bischof für deren Aufarbeitung zuständig. Nicolas Betticher, leitender Richter der katholischen Kirche in der Schweiz, schlägt vor, dass für jede nationale Bischofskonferenz ein Gerichtshof geschaffen werde, der sich mit Missbrauchsfällen befasse. Diesem Gericht sollten nicht nur Kirchenrechtler, sondern auch unabhängige Juristen, Psychiater und Ärzte angehören – Männer wie Frauen.

Gemäss dem Freiburger ­Moraltheologen Daniel Bogner ist nicht nur die römische Sexualmoral, sondern das antiquierte Rechtssystem schuld am epidemischen Kindsmissbrauch. Teilen Sie seine Meinung?

Gewiss. Das pyramidale System, so, wie es heute besteht, war erst im 16. Jahrhundert als feudales monarchisches Gebilde entstanden: Der Bischof hat alle drei kirchlichen Gewalten der Leitung, Lehre und Heiligung inne. Er ist zugleich Regent, Gesetz­geber und Richter. In der kirchlichen Schatztruhe gibt es aber auch die Gewaltenteilung. Bis zum 13. Jahrhundert waren in der Kirche die Verwaltungs- und Jurisdiktionsgewalt getrennt.

Inwiefern ist die fehlende Gewaltenteilung im Umgang mit sexuellem Missbrauch problematisch?

Sie ist bei Missbrauch überhaupt problematisch, auch bei Machtmissbrauch. Der Bischof ist der Arbeitgeber, der den Priester einstellt, ist oberster Richter, der den Täter verurteilt, spiritueller Vater, der die Opfer schützt und begleitet – und er muss dafür sorgen, dass es nicht zu neuen Fällen kommt. Dieses Modell der drei Gewalten in einer Person ist ungesund und unglaubwürdig, wird den Opfern nicht gerecht. Es ist eine Überforderung, unter der die Bischöfe leiden.

Kann nicht die Kommission für sexuelle Übergriffe der Schweizer Bischöfe diese entlasten?

Schon, diese Kommission kann sie aber nur beraten. Erfährt sie von einem Missbrauchsfall, muss sie ihn dem Bischof melden. Dieser muss die staatliche Stelle, die Staatsanwaltschaft, einschalten und parallel dazu ein kirchenrechtliches Verfahren einleiten. Obendrein muss er den Fall der Glaubenskongregation in Rom melden, zuständig für alle Missbrauchsfälle weltweit. Nur: Wie soll eine einzige römische Stelle für die ganze Welt agieren? Das ist nicht machbar.

Also müsste es eigene gerichtliche Instanzen geben?

Das wäre das einzig Vernünftige: ein Gerichtshof für jede nationale Bischofskonferenz. Dieser sollte aus unabhängigen Fachleuten bestehen, nicht nur aus Kirchenrechtlern, sondern auch aus Juristen, Psychiatern, Ärzten, und zwar aus Männern wie Frauen. Dieses Gericht müsste, vom Papst ermächtigt, entscheiden und urteilen können. Das wäre völlig neu, gewiss. Bislang kann nur der Bischof Recht sprechen.

Es bräuchte auch ein eigenes Gericht in Rom?

Es bräuchte in Rom neben den Gerichten Rota und Signatura ein eigenes Gericht für Missbrauchsfälle aller Art. Und zwar als dritte Instanz. Erste Instanz wäre das nationale interdiözesane Gericht. Zweite Instanz könnte ein Gericht je Kontinent oder für mehrere Länder sein.

Sie sind leitender Offizial, Kirchenrichter, des interdiözesanen kirchlichen Gerichts in der Schweiz. Könnte man dieses zum Gerichtshof für Missbrauchsfälle ausbauen?

Nein, es ist ein Ehegericht. Am neuen Gericht sollten Fachleute Recht sprechen. Sie würden beurteilen, was mit Missbrauchspriestern geschehen soll, und sie würden kirchenrechtliche Sanktionen aussprechen: Suspension, Entlassung, Therapie. Den Rest macht der Staat, der das besser kann als wir.

Haben Sie es heute nicht auch mit Missbrauchstätern zu tun?

Ich bin für Ehesachen zuständig. Aber es gelangen viele Rat suchende Priester an mich. Manche kennen mich aus den Medien und haben gelesen, ich sei oberster kirchlicher Richter. Korrekt bin ich der Richter für Eheangelegenheiten in zweiter Instanz. Aber ich begleite immer wieder Priester in Fällen von Machtmissbrauch, Priester, die eine Verfügung des Bischofs erhalten haben, ohne zuvor angehört worden zu sein und manchmal beim Arbeitsvermittlungszentrum landen. Das darf nicht sein. Auch in der Kirche gilt das Prinzip «altera pars»: Auch die andere Seite muss angehört werden.

Haben Sie die Bischöfe mit Ihrem Vorschlag neuer Gerichtshöfe konfrontiert?

Noch nicht. Ich will das zuerst an der Konferenz aller Schweizer Kirchenrechtler im September diskutieren lassen.

Könnte der Papst solche neuen Gerichtshöfe einrichten?

Ja natürlich, das könnte der Papst morgen schon machen. Er könnte diesen nationalen Gerichten weltweit die Gewalt geben, als erste Instanz richterlich zu fungieren und Strafen auszusprechen. Erst dann wären wir glaubwürdig. Erst dann könnten wir die Vertuschung wirksam bekämpfen. Man muss die Bischöfe vor sich selber schützen, gegen ihre unkundige Art, mit Missbrauchsfällen umzugehen. Ich habe das selber genug erlebt.

Als kirchlicher Richter im Westschweizer Bistum?

Ich war damals ganz neu Offizial und dann Generalvikar im Bistum Lausanne, Genf und Freiburg, als 2007 bei uns die ersten Missbrauchsfälle gemeldet wurden. Wir wussten nicht, wie wir damit umgehen sollten, zumal es in den Personaldossiers nichts Schriftliches gab.

Sie hatten auch mit dem Fall eines pädophilen Priesters zu tun, mit Joel Allaz.

Man hätte seine Übergriffe schon in den 80er-Jahren der Staatsanwaltschaft melden müssen. Dann hätte es keine weiteren Opfer gegeben. Aber das war typisch damals: Die Kapuziner schoben ihn von Genf nach Frankreich ab, wo er sich erneut an Kindern verging.

Versetzung und Vertuschung waren die Hauptprobleme?

Das war damals gang und gäbe. Ich sagte mir: Der Staat muss uns helfen – als Kirche können wir keine polizeilichen Massnahmen ergreifen. So entschloss ich mich, den Staatsanwalt einzuschalten – und wurde dafür kritisiert. Man durfte nicht alle Fälle melden, es brauchte die Einwilligung der Opfer. Heute ist das anders: Die Schweizer Bischöfe haben jüngst in ihren Richtlinien die Anzeigepflicht verankert. Zusammen mit Deutschland sind wir die Ersten, die das eingeführt haben.

Kann man Vertuschung so wirklich verhindern?

Schon. Aber es genügt nicht. Es gibt ja auch Fälle, wo nicht klar ist, ob man sie dem Staatsanwalt melden soll. Der neue Gerichtshof könnte das als Aufsichtsbehörde abklären. Ich würde darüber hinaus eine Ombudsstelle je Land einrichten, besonders für alle Arten von Machtmissbrauch in der Kirche.

Die seit 2010 erhobene Statistik der Bischöfe zeigt, dass von den vielen Missbrauchspriestern nur wenige verurteilt wurden.

Das ist das Problem: Es wurde viel vertuscht, weil Bischöfe oft befangen sind. Wie sollen sie einen Priester, den sie gut kennen, den sie geweiht und eingestellt haben, anzeigen und verurteilen? Viele Bischöfe sind befangen, das macht sie krank. Mein Bischof damals in Freiburg, Bernard Genoud, ist krank geworden. Der Gerichtshof würde die Bischöfe entlasten, sie könnten sich ganz der Seelsorge widmen.

Am päpstlichen Missbrauchsgipfel im Februar haben die Bischöfe nicht einmal davon gesprochen.

Ich hätte mir das sehr gewünscht. In gewissen Ländern, in Deutschland und in der Schweiz, wäre man bereit dazu. Mit diesem von den Bischöfen unabhängigen, nur dem Papst rechenschaftspflichtigen Gerichtshof würde die Gewaltentrennung vorangetrieben. Wir müssen an der Basis gemeinsam aufstehen und Türen öffnen. Ich denke, viele gehen bereits in diese Richtung.

2015 hatte der Papst eine Gerichtsinstanz in Aussicht gestellt. Diese sollte überwachen, dass die Bischöfe keine Missbrauchsfälle vertuschen. Nun ist der Papst wieder davon abgerückt.

In seinem Dokument vom März hält Franziskus fest, dass ein Priester, der von einem Fehlverhalten seines Bischofs weiss, den Nuntius oder Rom informieren muss. Nur: Welcher Priester wird das tun, wo doch der Bischof sein Chef ist, sein Arbeitgeber, Vater und Richter? Eine nationale Ombudsstelle könnte das regeln.

 

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