Tabuthema häusliche Gewalt

Eleonora Torchetti, Leiterin Sprechstunde für häusliche Gewaltbetroffene am Inselspital Bern, im Interview

Laut Statistik ist die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in der Schweiz um 8 % im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Viele wagen erst sehr spät den Schritt aus dem Teufelskreis und suchen sich Hilfe. Eleonora Torchetti ist Leiterin Sprechstunde für häusliche Gewaltbetroffene am Inselspital Bern. Im Interview spricht sie über ein Tabuthema und mögliche Auswege.

Christian Geltinger

 

Wie entsteht häusliche Gewalt?

Häusliche Gewalt entsteht meist nicht plötzlich, sondern entwickelt sich allmählich durch ein Zusammenspiel verschiedener individueller Faktoren, beziehungsbezogener, sozialer und gesellschaftlicher Faktoren. Dazu gehören Macht- und Kontrollverhältnisse, tief verwurzelte geschlechtsspezifische Rollenbilder und Stressfaktoren wie Arbeitslosigkeit oder finanzielle Schwierigkeiten, aber auch Alkohol- und Drogenkonsum, psychische Probleme, eigene Gewalterfahrungen.

Gibt es Indikatoren, auf die aussenstehende Personen aufmerksam werden sollten?

Indikatoren (Anzeichen) für häusliche Gewalt können vielfältig sein – sie zeigen sich auf körperlicher, psychischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene. Warnsignale können körperliche Anzeichen mit unglaubwürdigen Erklärungen wie häufige Verletzungen (z.B. blaue Flecken, Verbrennungen, Frakturen) oder Verletzungen an verdeckten Körperstellen (Rücken, Oberarme, Oberschenkel) sein, verzögertes Annehmen medizinischer Hilfe oder Ausreden («Ich bin gestolpert») sowie auffällige Kleidung im Sommer, um Verletzungen zu verbergen. Dazu kommen psychische Anzeichen wie Angst, mangelndes Selbstwertgefühl, Isolation oder Anzeichen für Abhängigkeitsverhältnisse.

Was sind die Faktoren, die häusliche Gewalt begünstigen?

Traditionelle Geschlechterrollen, ökonomische Abhängigkeit, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie psychische Probleme können häusliche Gewalt befördern.

Wie reagiert man als aussenstehende Person?

Das Wichtigste, finde ich persönlich, ist Unterstützung anzubieten, zuzuhören und nicht zu urteilen. Es kann hilfreich sein, Informationen über bestehende Hilfsangeboten bereitzustellen. In Bern haben wir die Beratungsstelle Opferhilfe, die ein breites Angebot für Gewaltbetroffene und ihre Angehörigen bietet. Die Opferhilfe bietet Beratung und Begleitung (juristische, psychologische, soziale und materielle/medizinische) und bietet Soforthilfe an (finanzielle Unterstützung bei dringendsten Bedürfnissen unmittelbar nach der Straftat: Notunterkunft, erste Arzt- oder Therapie-/Anwaltskosten). Nicht zu vergessen sind die Polizei, Hausärzte und natürlich die Spitäler, z. B. das Inselspital mit einem interdisziplinären Angebot (medizinische und psychologische Hilfe). Begleitend auch das Frauenhaus, das Schutz und Unterkunft bietet. Unterdessen existiert auch ein Männerhaus, dies zeigt uns, dass diese Gruppe auch erkannt wird und Unterstützung benötigt.

Welchen Formen der Gewalt begegnen Sie in der Sprechstunde?

In der Sprechstunde behandeln wir aktuell ausschliesslich betroffene von häuslicher Gewalt. Bei diesen Gewaltopfer ist oft die psychische, bisher immer die physische (körperliche) und die ökonomische Gewalt vertreten.

Wir behandeln keine erweiterte interpersonelle Gewalt (z.B. Gewalt unter Jugendlichen auf der Strasse). Hierfür müsste das Sprechstundenagebot und die Gewaltambulanz ausgebaut werden.

Opfer von sexueller Gewalt werden nicht in unserer Sprechstunde betreut, sondern im Rahmen des «Berner Modell» (Rechtsmedizin und Frauenklinik Inselspital gemeinsam).

Wie ist die Verteilung bei den Betroffenen?

Häusliche Gewalt betrifft Menschen aller Geschlechter, Altersgruppen und sozialen Schichten, jedoch sind Frauen häufig überproportional betroffen. Studien zeigen, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist.

Die Gewaltopfer, die unsere Sprechstunde aufsuchen sind alle von physischer Gewalt betroffen, begleitet von psychischer und ökonomischer. Ausgehend der Jahresstatistik des Notfalls Inselspital vom 2024 wurden in unserer Sprechstunde 84% weibliche und 16% männliche Opfer behandelt. Im Vergleich zum Vorjahr handelt es sich um eine 27%ige Zunahme der behandelten Patienten:innen. Hauptvertreten betreffend Alter sind die zw. 30 – 39 Jahre alten Opfer mit 36%.

Gibt es eine Schätzung über eine Dunkelziffer?

Was befürchtet wird ist, dass es sich um eine sehr hohe Zahl handelt, d.h. gemäss offizieller Statistik wenden sich nur etwa 10 – 20 % der Betroffenen an die Polizei. Die Dunkelziffer wird auf mindestens das fünffache der bekannten Zahlen geschätzt.

Wenn wir die Statistik ins Auge fassen: Im Jahr 2024 wurden 4'847 Gewaltstraftaten durchgeführt (+8% zum Vorjahr), davon waren 1947 (+14% zum Vorjahr) Opfer von häuslicher Gewalt. In Bern-Mittelland ca. 160 – 180 Fälle/Jahr. Schon dies sind relevante Zahlen und absolut vermeidbar mit Sensibilisierung, Prävention und Intervention.  

Gibt es auch häusliche Gewalt an Männern?

Ja. In unserer Sprechstunde behandeln wir auch Männer, im Jahr 2024 haben wir 16% männliche Opfer in unserer Sprechstunde betreut. In der schweizweiten Statistik handelt es sich um ca. 25% - 33% betroffenen Männer von häuslicher Gewalt.

Hat häusliche Gewalt durch die Veränderung der Rollenbilder und deren geschlechtsspezifischer Verhaltensmuster eher zu- oder abgenommen? Stichwort Incels.

Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte – insbesondere die Aufweichung traditioneller Geschlechterrollen, die Emanzipation der Frau und das Ringen um neue männliche Identitätsbilder – haben zu einer Verschiebung in der Dynamik häuslicher Gewalt geführt. Statistisch ist die Gesamtzahl der gemeldeten Fälle häuslicher Gewalt in der Schweiz und auch im Kanton Bern in den letzten Jahren eher gestiegen. Das liegt aber weniger daran, dass tatsächlich mehr Gewalt verübt wird, sondern daran, dass Sensibilisierung, rechtliche Möglichkeiten und Meldebereitschaft zugenommen haben. Die Gewalt selbst ist vermutlich nicht grundsätzlich häufiger, aber sichtbarer geworden. Traditionelle Männlichkeitsbilder (Stärke, Kontrolle, Dominanz) geraten zunehmend unter Druck. Männer, die sich mit neuen, gleichberechtigten Rollen schwertun, können ein erhöhtes Risiko für Kontroll- oder Gewalthandlungen zeigen – insbesondere bei Statusverlust oder Trennung. Gleichzeitig erleben einige Männer Gewalt durch Partnerinnen oder Partner, häufig in emotionaler oder psychischer Form, was gesellschaftlich noch weniger anerkannt und damit schwerer erfassbar ist. Eine Sonderform dieser Gewaltanwendung geht von der Gruppe Incels aus. Incels (von involuntary celibates, unfreiwillig Enthaltsame) sind meist junge Männer, die sich von Frauen und der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und häufig misogyne (frauenfeindliche) Weltbilder entwickeln.

Während nur ein kleiner Teil dieser Gruppe tatsächlich gewalttätig wird, zeigen Studien, dass Frustration über veränderte Rollenbilder und gefühlte Machtlosigkeit zu einer Radikalisierung führen können – teils auch zu Gewaltfantasien gegen Frauen.

Diese Strömung steht symptomatisch für den gesellschaftlichen Umbruch: Wo Männer traditionelle Privilegien verlieren, ohne neue stabile Identitätsangebote zu finden, kann das Risiko für geschlechtsbezogene Gewalt steigen. Langfristig tragen Gleichstellung, Bildung und Enttabuisierung aber zur Reduktion häuslicher Gewalt bei.

Was passiert bei der Notfallsprechstunde im Inselspital und wo können sich betroffene Personen melden?

Patient:Innen die von häuslicher Gewalt betroffen sind, werden nach 48 – 72h. nach Erstkonsultation auf dem Inselspital Notfall in unserer Sprechstunde betreut. Nach 48 – 72h sind die Blutergüsse besser sichtbar und für die Dokumentation ersichtlicher. Bisher haben wir ausschliesslich Betroffenen von Gewalt nach Erstkonsultation auf dem Inselnotfall betreuen können, da keine Finanzierung (Auftrag) vom Kanton besteht. Die Idee die Sprechstunde durch finanzielle Unterstützung von extern (Stiftungen, kath. Kirche etc.) und die erfolgreich angenommene Motion der Grossrätin Belinda Walpoth ermöglichen einen Ausbau und «Öffnung» des Angebots für externe Zuweiser*Innen (andere Spitäler, Opferhilfe, Frauenhaus, Hausärzte, Polizei etc.). Aktuell sind wir an der Rekrutierung von inselinternen Forensic Nurses, Verhandlung mit der Rechtsmedizin Bern betreffend Supervision, Ausbau des Angebots für externe Zuweiser*Innen. Sobald wir startbereit sind, werden wir dies auf verschiedenen Kanälen veröffentlichen.

Gibt es Personen, die wiederholt zu ihnen kommen?

Ja, es gibt Fälle von betroffenen, die mehrfach Hilfe in Anspruch nehmen, oft aufgrund von langen und komplizierten Ausstiegsprozessen.

Wie sieht es mit meinem Persönlichkeitsschutz aus? Bleiben meine Daten anonym? Habe ich es selbst in der Hand, ob ich rechtliche Schritte einleite?

Alle Informationen, die in der Sprechstunde behandelt werden (z.B. über die Tat, Verletzungen, Täter oder die eigene Lebenssituation), unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht. Ärzt:innen, Pflegefachpersonen oder Psycholog:innen dürfen ohne ausdrückliche Einwilligung keine Informationen weitergeben – weder der Polizei, Arbeitgeber noch Angehörige. Eine Ausnahme ist die akute Lebensgefahr, akute Kindesgefährdung oder ein klarer gesetzlicher Auftrag zur Meldung. Im Inselspital ist es möglich, nach häuslicher oder sexueller Gewalt anonym Spuren sichern zu lassen. Die Opfer werden medizinisch untersucht, Verletzungen werden forensisch dokumentiert, Beweise (Fotos) werden gesichert und neutral verwahrt, ohne dass sofort eine Anzeige erfolgt. Die Opfer entscheiden selbst, ob sie später die Dokumentation an die Polizei weitergeben werden. Das ist ein zentraler Bestandteil des Persönlichkeitsschutzes – die Betroffenen behalten die Kontrolle über ihre Daten und das weitere Vorgehen.

Arbeiten Sie mit anderen Einrichtungen zusammen? Wo findet man als betroffene Person Hilfe?

Im Inselspital intern sind wir interdisziplinär vernetzt (Psychiatrie, Sozialdienst, Kinderschutzgruppe, Radiologie, Rechtsdienst, Infektiologie, Frauenklinik und Innere Medizin). Extern arbeiten wir mit der Beratungsstelle Opferhilfe Bern, Frauenhaus, Fachstelle Gewalt Bern und mit den universitären psychiatrischen Dienste Bern. Begleitend informieren wir die Betroffenen über das Angebot «Tech against violence», eine Plattform die zur Sicherung von Dokumenten, Fotos etc. in Selbstregie allen Betroffenen zur Verfügung steht, dienlich bei einer Anzeige.

Als betroffene Person kann man sich bei den obenstehenden Fachstellen direkt melden, begleitend beim Hausarzt oder auf dem Notfall des Inselspitals Bern.

Können wir Ihrer Meinung nach als Gesellschaft etwas tun, um die strukturellen Ursachen von häuslicher Gewalt zu bekämpfen?

Gesellschaftliches Bewusstsein und Bildung sind entscheidend, um die strukturellen Ursachen von häuslicher Gewalt zu bekämpfen. Präventionsprogramme und Aufklärungskampagnen spielen eine wichtige Rolle.

Inwiefern kann die Sprechstunde an der Insel Modellcharakter haben?

Die Sprechstunde am Inselspital könnte als Modell für andere Einrichtungen dienen, indem sie als niederschwellige Anlaufstelle dient und eine umfassende Versorgung bietet. Das Ziel der Sprechstunde am Inselspital ist ein interdisziplinäres Zentrum für gewaltbetroffene Menschen auf-/auszubauen. Ziel ist eine Sprechstunde mit Forensic Nurse zu organisieren mit Supervision durch die Kollegen der Rechtsmedizin Bern. Solche Angebote gibt es schon in mehreren Kantonen, z.B. in Chur, Zürich, Genf und Neuchâtel.

 

Die Sprechstunde für häusliche Gewaltbetroffene am Inselspital Bern wird unterstützt von der Katholischen Kirche Region Bern.

 

Sie sind selbst von häuslicher Gewalt betroffen oder möchten sich über die Arbeit von Eleonora Torchetti informieren? Mehr Infos finden Sie HIER.

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