Wasser unter Bern

Text: Marie-Louise Beyeler
Fotos: Pia Neuenschwander

Die Stadt ist weg: Ein paar Tritte in die Tiefe, und wir sind in der Berner Unterwelt.
Walter Steffen, unser Guide, mahnt uns zur Vorsicht beim Einstieg in der Nähe des Rathauses: Den Tritt sichern, Kopf runter und schon stehen wir im Rathauskanal. Er wurde im 17. Jahrhundert gebaut, führt bis zum Langmauerweg hinunter und ist ein Ehgraben, einer der alten Abwasserkanäle.
Bis ins 12. Jahrhundert und zum Teil weit darüber hinaus wurde alles, was ein privater Haushalt an mehr oder weniger Flüssigem hergab, in den Stadtbach gekippt. Gerüche, Seuchen und die Stadtentwicklung erforderten Erneuerungen: Man erstellte ein Kanalisationsnetz und verpflichtete die Hausbesitzer zur nun mehr hygienischen Entsorgung ihrer Abwasser in den Ehgräben (Eh, mittelhochdeutsch für Gesetz). Die Kanäle verliefen zwischen den Häusern und markierten die Grenzen der Grundstücke. Die Stadt Bern hatte damit bereits im Mittelalter ein gut funktionierendes Kanalisationssystem.

Nach und nach wurden die Gräben überdeckt, sie sind heute noch in Betrieb und Teil des Abwassersystems Berns, das laufend erweitert wurde. Es umfasst heute rund 300 km und mündet in die ARA Region Bern. Den Gang durch den Rathauskanal hätte ich mir enger, gruseliger vorgestellt: links und rechts vom Trittsteg rinnt an diesem Nachmittag nur wenig Wasser, wahrscheinlich vom Rathausbrunnen, meint Walter Steffen. Riechen tut’s keineswegs schlecht, der Kanal ist beleuchtet, und so geht es Schritt für Schritt in die Tiefe. Es braucht so viel Gefälle, dass alle Abwässer hangabwärts gelangen.

Bis1960 floss alles in die Aare, heute geht’s via Pumpwerk in die ARA. Damit in den Kanälen nichts liegen bleibt und so das Abfliessen erschwert, gab es bis 1999 einen Stadtspüler. Heute müssen die Hausbesitzer selbst dafür sorgen, dass ihr Teilstück des Kanals sauber bleibt. Am Aarebord steigen wir aus dem Rathauskanal aus und gleich wieder in die Tiefe, diesmal ins Pumpwerk Langmauer, eines der 19 Abwasserpumpwerke der Stadt Bern. Hier läuft das Abwasser der Altstadt zusammen, wird mit drei Pumpen in einen Kanal befördert und fliesst dann Richtung ARA. Die leise summenden Pumpen müssen gar oft demontiert werden, damit alles sorglos Heruntergespülte entfernt werden kann.
Walter Steffen zählt auf: Katzensand und Speiseresten, Feuchttüchlein und Rasierklingen, WC-Duft-Halter und Schmuck, Strümpfe und Besteck, Unterwäsche und Putzlappen… Ich kann mir vorstellen, dass die Abwasser-Männer des Tiefbauamtes wohl manchmal den Kopf schütteln.

In der Stadt Bern und den umliegenden Gemeinden werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern, den Gewerbe- und Industriebetrieben, von Pendlern und Touristen, Restaurantbesucherinnen oder Patienten rund 100 Millionen Liter Abwasser produziert. Und wenn Sie sich jetzt verwundert die Augenreiben – diese und weitere Informationen finden sich in der Broschüre «Siedlungsentwässerung in der Stadt Bern» des Tiefbauamtes der Stadt Bern. Hier steht auch, dass eine vierköpfige Familie in Bern und Umgebung proTag rund 600 Liter sauberes Wasser braucht, zum Duschen und Zähneputzen, Wäsche und Geschirr waschen, Toilette spülen und Putzen. Davon fliesst jeder Tropfen über das Kanalisationssystem in die Kläranlage. Dabei geht mir durch den Kopf, dass laut Information der UNO im Jahr 2016 noch immer 663 Millionen Menschen in von Trockenheit geplagten Ländern keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.

Informationen - Bern sehen

Führungen durch Berns Unterwelt

Weitere Führungen in der Stadt: bern.com oder stattland.ch / «Siedlungsentwässerung in der Stadt Bern» www.bern.ch/tiefbauamt

Kunstwerk aus Kalk
Nach dem Pumpwerk Langmauer überqueren wir die Nydeggbrücke; die letzte Station unseres Rundgangs ist ein verstecktes Kleinod: Die Tropfsteinhöhle Klösterlistutz. Im Zweiten Weltkrieg beschloss der Gemeinderat, in den Abhang einen Sondierstollen zu graben mit dem Ziel, Schutzräume zu errichten. Die Bauarbeiten gestalteten sich ausserordentlich schwierig, zähe Molasse, Wasser und Schlamm erschwerten das Vorhaben. Es stellte sich heraus, dass der Stollen zu viel Wasser führte und das Projekt aussichtslos war.
Auch die Idee, den vorhandenen Stollen als Lagerraum zu benutzen, scheiterte an zu viel Wasser. So ordnete der Baudirektor im Sommer1945 schlicht und einfach an, den Stollen durch Zumauerung des Eingangs abzuschliessen; was geschah und den Stollen während rund vierzig Jahren seinem Schicksal überliess. Als Mitte der achtziger Jahre Mitarbeiter des Tiefbauamtes den Stollen betraten, staunten sie nicht schlecht: Da hatte die Natur ein Kunstwerk geschaffen! Das stark kalkhaltige Wasser war durch den Sandstein an die Oberfläche gedrungen, in Verbindung mit Sauerstoff formten sich Blumen und Ornamente, Spitzen und Bordüren – eine reiche, wunderschöne Fantasiewelt an der Decke und an den Wänden.
Der Stollen wurde aufgeräumt, beleuchtet und ist heute der Öffentlichkeit in Führungen zugänglich. Zurück aus der Unterwelt: Die Aare zieht ihren Bogen um die Altstadt, durch die Wolken blinzelt die Sonne, die Menschen gehen ihren alltäglichen Dingen nach. Ob sie sich vorstellen können, wie spannend die wässerige Unterwelt unter ihren Füssen ist?

 

Hier finden Sie alle 3 Teile der «pfarrblatt»-Sommerserie rund ums Wasser!

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