Zu Gast bei Familie Estifanos in Büren a.A.

 

Azieb Estifanos und ihre beiden Kinder laden uns zum traditionellen eritreischen Meadi auf ihren Balkon ein. Für die gemeinsame Mahlzeit liegen auf dem Tisch Servietten und Gläser, sonst nichts. Vor dem Essen wäscht das jüngste Familienmitglied allen Anwesenden die Hände: Das ist die Aufgabe der dreizehnjährige Misgana.

Für das Meadi hat die Gastgeberin auf einer grossen Platte die Injera, grosse Omeletten, ausgelegt, darauf hat sie Zgni, geschmortes Rindfleisch, das herrliche Linsengericht Addes , Shiro, ein Kirchererbsenmus und Hamliqusta, mit Zwiebeln und Knoblauch gedünstetes Gemüse drapiert. Wie ein kunstvolles Mosaik sieht die Platte aus, die nun in die Tischmitte gestellt wird.
Nach dem Gebet reicht der älteste Mann in der Familie, das ist hier der fünfzehnjährige Medhanie, jedem Anwesenden als Segensgeste ein kleines Stück Injera. Jetzt dürfen wir zugreifen, wir reissen etwas von den grossen Injera ab, fassen damit Fleisch, Gemüse, Sauce, Linsen und führen das bei uns mehr oder weniger perfekt geratene Päckli in den Mund.
Azieb füttert zwischendurch ihre Kinder und auch uns mit einem Häppchen – «in meiner Kultur ist das ein Zeichen von Zuneigung, Liebe, Respekt», erzählt sie, wohl wissend, dass uns das fremd vorkommt.

Zum Rezept

 

Grosse Tischgemeinschaft

Das gemeinsame Essen ist für eritreische Familien viel, viel mehr als Nahrungsaufnahme. Es ist Familienzeit, Entspannung, man redet viel zusammen, erfährt Neuigkeiten, erzählt sich Geschichten. «Wir spüren die Zugehörigkeit zur Familie, das gilt für alle, die sich zusammen an einen Tisch setzen. Je grösser der Kreis, je mehr Familienangehörige dabei sind, desto schöner ist es,» erklärt Azieb.

Redaktionsmitglied Sebastian Schafer macht sich in einem Kommentar Gedanken zum Umgang mit anderen Kulturen. Hat er recht oder ist alles viel komplizierter. Diskutieren Sie mit: www.facebook.com/pfarrblattbern

Sie hat sich daran gewöhnen müssen, dass der Kreis in ihrer Wohnung in Büren a. A. meistens eher klein ist. Vor rund fünf Jahren kam sie mit ihren Kindern als Asylsuchende in die Schweiz und knüpfte bereits vom Durchgangszentrum Büren a. A. aus Kontakte im Stedtli und im Pfarreizentrum St. Katharina, Medhanie und Misgana lernten im Rekordtempo Deutsch und Bärndütsch und wurden nach wenigen Wochen eingeschult; nach einem Jahr konnte die Familie eine Wohnung beziehen.

 

Die beiden Jugendlichen sind in zwei Kulturen zuhause. Dass ihre Mutter Azieb am gemeinsamen Essen, an der Tischgemeinschaft festhält und wenig begeistert ist von fliegender Verpflegung aus dem Kühlschrank, stört die beiden nicht – im Gegenteil: Sie möchten später die Zubereitung der traditionellen Speisen lernen, ihre Esskultur aufrecht erhalten. «Das gehört zu uns», sagt Misgana so klar, dass keine weiteren Erklärungen nötig sind.

Teilen heisst sich kümmern

Azieb hat dennoch welche: «Meadi hat zutiefst spirituellen Charakter. Sharing is caring, sagen wir, und das gilt nicht nur für jene, die gerade am Tisch sind. Jede Mahlzeit ist so berechnet, dass es für spontane Gäste, aber auch für Notleidende reicht. Es sind sozusagen alle eingeladen… Wenn jemand während der Essenszeit an die Tür klopft und um Essen bittet, wird grosszügig gegeben. Wir teilen – und nehmen uns damit unserer weniger bevorzugten Mitmenschen an.»
Ob es sie stört, dass das bei uns nicht der Fall ist? Dass wir unsere Türen vor Fremden oft lieber schliessen als öffnen? Das sei keinesfalls so, meint sie, erlebe sie doch seit ihrer Ankunft in unserem Land Grosszügigkeit, Offenheit, Respekt und auch immer wieder ganz konkrete Hilfe. «Der Dienst am Nächsten geht in diesem Land in weiten Bereichen halt nicht mehr direkt von einem zum andern, sondern ist institutionalisiert, in Systeme eingebunden, aber dennoch stets vorhanden. Wir drei erfahren das äusserst positiv.»

Seit den allerersten Tagen fühlt sich die Familie denn auch in der Gemeinschaft des Pfarreizentrums St. Katharina in Büren geborgen und begleitet. Mittlerweilen ist Azieb als Sakristanin angestellt und wird im Herbst die entsprechende Ausbildung beginnen.

Mit der katholischen Kirche ist sie eng verbunden, in ihrer Heimat führte sie das Sekretariat der eritreischen römisch-katholischen Bischofskonferenz; sie freut sich darüber, nun auch hier in der Kirche beruflich Fuss zu fassen.
Eines allerdings kann sie bis heute nicht verstehen: «Warum geniessen nicht mehr Menschen Gottesdienst am Sonntag Morgen? Eine einzige kurze Stunde, die man Gott widmet, in der man aus der Begegnung mit Jesus Christus so viel Kraft für die folgenden Tage schöpft? Hier in der Schweiz geht es den Menschen doch gut, hier müssten die Kirchen jeden Sonntag voll sein mit Männern, Frauen und Kindern, die Gott danken…».

Links und Informationen

Eritrea
Länderinformation des Auswärtigen Amt der BRD 
Länderinformation des EDA (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten)
Wikipedia

Hintergrund
Eritrea, schweigendes Land. NZZ, 26.6.2017
Flüchtlinge aus Eritrea. Woran sich Eritreer in der Schweiz die Zähne ausbeissen. NZZ, 31.1.17
Eritrea Unbefristeter «Nationaldienst», Flüchtlinge brauchen Schutz. Medienmitteilung von Amnesty International, 1.12.15

Eritreas Hauptstadt Asmara neu Weltkulturerbe
Die Unesco teilt mit, dass die Hauptstadt von Eritrea ab sofort zum Weltkulturerbe gehöre. Das Welterbekomittee der UN-Kulturorganisation nahm Asmara am 8. Juli offiziell in die Welterbeliste auf. Viele Häuser in Asmara wurden in der Kolonialzeit in futuristischem Stil errichtet - legendär sind etwa eine Bowling-Halle im Art-Déco-Stil oder eine Tankstelle in Form eines startenden Flugzeugs.
Eritrea war bis 1941 italienische Kolonie, das Stadtbild wurde in dieser Zeit geprägt. Europäische Architekten, deren Projekte damals in den Hauptstädten Europas keine Abnehmer fanden, zogen nach Eritrea und errichteten dort modernistische Bauten. Während in anderen Städten des Landes architektonische Juwelen im langen Krieg gegen Äthiopien zerstört wurden, blieb Asmara weitgehend intakt.
Offizielle Seite der Unesco
Schöne Galerie der BBC
Hintergrund, „heute-journal.de“ des ZDF

Was meinen die beiden Jugendlichen dazu? «Wir kennen nichts anderes, für uns gehört der Gottesdienst am Sonntag einfach zum Leben, und das ist gut so. Unsere Kolleginnen und Kollegen schlafen aus, wir gehen zur Kirche – kein Problem!»

Jetzt ist Zeit für das Dessert, das es bei einer eritreischen Mahlzeit eigentlich nicht gibt. So bewegen wir uns auch hier in zwei Kulturen: Azieb bringt in einer grossen Schale frisch geröstetes Pop Corn, das sie mit Festtagsbrot und herrlichem Kaffee zusammen serviert. Es wartet aber auch noch ein sommerlich-fruchtiger Tirami-sù. Unsere gemeinsame Mahlzeit geht zu Ende – am Tisch bei Azieb, Medhanie und Misgana ist es nicht nur das Essen, das herrlich schmeckt und gut tut. Ihre Gastfreundschaft ist ein berührendes Geschenk.

Sharing is caring. Danke!

Text: Marie-Louise Beyeler / Fotos: Tanja Läser

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