Die Heiligen harren aus

 

 

 

Das ist wie Ferien, wie weit weg. Im Beizli an der Ländte von Le Landeron sitzen friedliche Geniesser beim Apéro, Kinder kurven auf ihren Velos herum, Spaziergänger bummeln der Zihl entlang oder Richtung Strandbad. Entschleunigter Samstag Abend…

Kaum zu glauben, welche Zeitreise hinter mir liegt. War das wirklich bloss ein Sommernachmittag? Vom neuenburgischen St Blaise aus geht die knapp dreistündige Wanderung dem Jurasüdfuss entlang über Cornaux und Cressier vorerst nach Combes, dann hinunter nach Le Landeron. Eine Gegend, die in unserer Nachbarschaft liegt und uns dennoch ziemlich anders begegnet.

Die Aussicht zeigt Industriebauten und Natur, Autobahn und Ortschaften, Felder und Weinberge, die Zihl und den Neuenburger- und Bielersee. Wunderbar. Combes, die kleine Ortschaft über Le Landeron, empfängt die Wandernde mit riesigen Traktoren, landwirtschaftlichen Fahrzeugen, vielen Kühen, Pferden, neugierigen, im Freien weidenden Schweinen und schlafenden Hunden. Nein, die wecke ich lieber nicht…

Den Weg zur Kapelle muss man sich suchen, von Hinweisschildern scheint man wenig zu halten – es ist, als gehöre die Kapelle hier nicht wirklich zum Dorfleben. Ein mit hohem Gras bewachsener Pfad führt schliesslich an Ziel. Etwas einsam steht sie da, die der Heiligen Anna und Notre Dame de Lorette geweihte kleine Kirche. Es ist mir, als befände ich mich irgendwo in der Provence oder in einer verlassenen Gegend Italiens, aber sicher nicht „um die Ecke“.

Still ist es hier und fast scheint es, als sei schon lange niemand mehr da gewesen. Im Weihwasserbecken vor der Kirchentüre haben sich Vögel ein Nest gebaut. Die Öffnungszeiten der Kapelle können von der Pfarrei Le Landeron im Moment nicht geregelt werden. Deshalb darf man bei Madame Françoise im Haus rechts vor dem Grasweg zur Kapelle anklopfen, sie hat den Schlüssel und schliesst die Kirchentür gerne auf…

 

 

Dreifacher Jesus

In den Jahren 1691 bis 1694 baute Curé Urs Saudenis mit Unterstützung der Herzogin Marie de Nemours die Kapelle für die Bewohner von Combes und als Wallfahrtsort. Le Landeron und Cressier waren die einzigen katholischen Pfarreien in der Herrschaft Neuenburg und brauchten finanzielle Hilfe für diesen Bau.

Der quadratische, an die Kirche angelehnte Turm ist typisch für die Region. Im Innern erwartet die Besuchenden eine erstaunlich schöne barocke Ausstattung

. Über dem Hochaltar sind die Heilige Anna, Maria und Jesus sowie Josef und der Heilige Antonius von Padua je mit dem Jesuskind gruppiert – eine seltene dreifache Jesus-Darstellung. Die Heiligen Agatha und Barbara flankieren den Altar und erzählen mit ihren Attributen aus ihren dramatischen Leben: Für Agatha stehen die Fackel als auch die Platte mit ihren abgeschnittenen Brüsten, für Barbara Kanonenrohr, Kelch und Hostie.

Da schaudert’s einen, und in der Nebenkapelle geht’s ebenso aussergewöhnlich weiter: Die Loretto-Legende besagt, dass Engel im 13. Jahrhundert aus Angst vor kriegerischen Auseinandersetzungen das Haus der Gottesmutter Maria aus Nazareth innert einer Nacht nach in den italienischen Ort Loreto brachten.

 

Soviel Action an den Wänden dieser Kapelle – und heute so viel Stille, ja fast Verlassenheit. Lange sitze ich an der warmen Kirchenmauer, lasse den Blick über die Gegend von Le Landeron Richtung Bielersee, Heidenweg mit Petersinsel und Erlach schweifen und fühle mich wie abgerückt vom Alltag, der sich dort unten abspielt.

Ob sich Bauherr Urs Saudenis hätte vorstellen können, dass der von ihm erbaute Wallfahrtsort heute alles andere als berühmt, alles andere als prächtig dasteht und meist verschlossen ist? Oder war sein Vorhaben letztlich zukunftsgerichtet und ist heute eine Metapher für Ruhesuchende: Wer wirklich Abstand vom alltäglichen Geschehen gewinnen will, muss sich Orte des Rückzugs förmlich suchen…

Katholisch bleiben

Der Weg hinunter nach Le Landeron führt durch Wald und Weinberg, in der Altstadt ist Feierabendstimmung. Beim Halt unter den Lindenbäumen auf dem Stadtplatz erschliesst sich die Geschichte: Die Abtei von St. Johannsen verkaufte dem Grafen von Neuenburg ein Stück Land in den Sümpfen der Zihl, er baute die gut zu verteidigende Festung Le Landeron, die von Anfang an grosse Privilegien genoss.

Auch sollte sich der Bund mit Solothurn von Bedeutung erweisen: Als sich der Kanton Neuenburg der Reformation anschloss, war das für die Bewohner von Le Landeron und Cressier kein Thema – sie wollten katholisch bleiben. Das konnten sie sich mit Hilfe des verbündeten Solothurn erkämpfen, als Folge davon blieben jedoch konfessionelle Spannungen bis weit in die heutige Zeit hinein. In der Altstadt steht die 1450 erbaute Kapelle der Zehntausend Ritter, in der bis Ende des 20. Jahrhunderts Kapuziner des nahen kleinen Klosters tätig waren.

Tempi passati, auch hier nagt der Zeitgeist, und es ist nicht von ungefähr, dass der erste Prospekt, den ich aus dem bescheidenen Schriftenstand fische, ein Spendenaufruf für die „Clochers du Landeron“ ist. Aus dem Jahr 2016…

Die Sonne ist im Westen am Sinken. Friedlich schimmert der Bielersee im Abendlicht. In der kleinen Kapelle oben am Jurahang harren die Heiligen aus, unbeirrt und aufrecht schauen sie durch die Jahrhunderte hindurch auf dasTreiben von armen und reichen Grafen, streitenden Christen, fleissigen Mönchen und gläubigen Wallfahrenden. 

 

 

 

 

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