Makabre Hoffnung auf den Himmel

Vom Wallfahrtsort Oberbüren ist heute nichts mehr vorhanden. Im Mittelalter war das ganz anders. Die Autorin Blanca Burri hat sich für das «pfarrblatt» auf Spurensuche begeben. Ein Bericht über eine vergangene Zeit.

Text: Blanca Burri
Fotos: Pia Neuenschwander

Der Himmel weint Millionen Tränen. Sie tropfen auf das Pflaster und treiben die Passant*innen unter die Lauben der Altstadt von Büren an der Aare. Trotz tiefer Wolken steht sie pittoresk am Aare-Ufer.

Das Restaurant Kornhaus, aber auch das Rathaus mit dem heutigen Tourismusbüro und das Schloss, wo Musikschüler*innen ein- und ausgehen, bieten einmalige Fotosujets. Auf dem Marktplatz dazwischen plätschert der Vennerbrunnen, der bei diesem Wetter niemanden zu interessieren vermag. Der stolze Fähndrich auf seinem Sockel trotzt den Regentropfen tapfer.

Auf einem Spaziergang entlang der einladenden Restaurants, der Textilateliers und des innovativen Kleingewerbes geht es auf Spurensuche: Wo ist das Marienheiligtum, das «Sanctuaire à Répit» – der Wallfahrtsort Oberbüren? Hoffnungsträger Tausender Eltern, die im späten Mittelalter ihre toten Kinder herbrachten.

Zum Leben erweckt

Der Wallfahrtsort Oberbüren befindet sich auf dem Hügel südöstlich der Altstadt. Dorthin trugen die Gläubigen die Früh- und Totgeburten in langen Tagesmärschen. Hier wurden die toten Körper über glühenden Kohlen und Kerzen aufgewärmt, danach in die kalte Kirche getragen, wo ihnen eine Feder über die Lippen gelegt wurde.

Die flüchtige Wärme vermochte sie für einen kurzen Moment zu bewegen, was als Lebenszeichen gedeutet wurde. Sofort taufte der Priester die Kinder, was ihnen ein Begräbnis in geweihter Erde und den Einzug in den Himmel ermöglichte.

Jetzt, da ihre Sprösslinge begraben waren und sie ihre Seele im Himmel wussten, konnten die Eltern trauern, Abschied nehmen und den Alltag nach der langen Heimreise wieder aufnehmen. Diese Heiligtümer, in denen tot geborenen Kindern mithilfe der Muttergottes Leben eingehaucht wurde, werden auch als «Sanctuaires à Répit» bezeichnet.

«Es war ein Ort der Hoffnung». Interview mit Pfarreiseelsorger Jerko Bozic aus Büren

Das Aus der Hoffnung

Bischof Otto von Sonnenberg war mit dem Treiben seiner Schäfchen im Westen des Bistums Konstanz überhaupt nicht einverstanden. Mit all den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchte er, die Wiedererweckung der Kinder zu verbieten. Als sich Bern trotz Intervention des Bischofs hinter Büren stellte, schrieb er dem Papst und klagte: «… so verachtet doch Schultheiss, Räte und Gemeinde von Bern und deren Verbündete diese Ermahnungen und die Strafen und lassen diesen Aberglauben geschehen und begünstigen ihn sogar …»

Erst die Reformation gebot der Volksfrömmigkeit 1528 Einhalt. Wie wir wissen, tat sich Bern schwer damit, zu genau wusste man um den finanziellen Vorteil im Schulterschluss mit der katholischen Kirche.

Einmal zur Reformation durchgerungen, nahm Bern der Ortschaft Oberbüren das Wallfahrtsheiligtum. Die grosse Wallfahrtskirche wurde dem Erdboden gleichgemacht und die Bausubstanz für andere Gebäude wiederverwendet. Mit dem Verschwinden des «Sanctuaire à Répit» versiegte die Haupteinnahmequelle.

Um die Gemeinde bei Laune zu halten, gewährte ihr Bern eine andere Verdienstmöglichkeit: die Fasnacht. Das ist für die reformierten Landesteile einzigartig. Seit bald 500 Jahren überdeckt Oberbüren die Ortstafel am 1. Januar durch ein Schild mit der Aufschrift «Türmliwil» und öffnet den Narren damit Tür und Tor in die Altstadt.

Ein Skelett im Museum

Als 1992 eine Überbauung auf dem Gelände Chilchmatt geplant wurde, löste dies genauere Untersuchungen durch den Archäologischen Dienst des Kantons Bern aus. Während sechs Jahren bargen unzählige Fachleute über 2000 Kinderskelette. Viele davon waren so klein, dass ihre Knochen, allen voran die Schädel, zu Staub zerfielen. Die Zuordnung war äusserst schwierig. Heute befinden sich die Überreste in der Obhut des Archäologischen Dienstes in Bern. Eines der Skelette aber ist als Leihgabe im Ortsmuseum Spittel aufbewahrt, ein Kleinod unter den Ortsmuseen. Die frühere Fremden- und Pilgerherberge kann nach Vereinbarung besucht werden.

Ein Ort ohne Seele

Die drohenden Wolken halten den Regen für einen Moment zurück. Das lädt dazu ein, das Denkmal auf der Anhöhe der Chilchmatt zu besuchen.

Nachdem die Ausgrabungen abgeschlossen waren, kaufte die Gemeinde Büren aus Pietätsgründen einen Teil des Terrains. Eine schlichte Informationstafel am Rande des Geländes erinnert an die Begebenheiten.

Inmitten der blühenden Naturwiese steht eine sterile, mehrere Meter hohe Skulptur, eine stilisierte Feder. Neben dem ehemaligen Kirchenfundament reihen sich gepflegte Einfamilienhäuser. Alles ist so unauffällig, dass es kaum wahrgenommen wird. Ein geschichtsträchtiger Ort, der so vielen Menschen Hoffnung und Trost gespendet hat.

Ein Ort des Abschieds und des Neuanfangs. Er steht heute verlassen da und strahlt nichts mehr aus: weder Trauer über den Verlust noch Freude über die Erlösung der tot geborenen Kinder. Wäre da nicht die Gedenkskulptur «Die Feder», die an den einstigen Wallfahrtsort Oberbüren erinnert. Die letzten kalten Regentropfen fallen zu Boden und tränken den einst heiligen Boden.
 

Quellenangabe:
Elke Pahud de Mortanges: Das Schicksal fehl- und totgeborener, ungetauft verstorbener Kinder aus theologischer Sicht, in: Peter Eggenberger, Susi Ulrich-Bochsler, Kathrin Utz Tremp, Elke Pahud de Mortanges, Marlu Kühn, Angela Schlumbaum et al.: Das mittelalterliche Marienheiligtum von Oberbüren. Archäologische Untersuchungen in Büren an der Aare, Chilchmatt, Hefte zur Archäologie im Kanton Bern 4, Amt für Kultur, Archäologischer Dienst des Kantons Bern (Hrsg.), Bern 2019, 396 S., hier S. 53-81.

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