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Auf der Schwelle zum neuen Jahr

«Fröhliche Wienachte» und «Äs guets Nöis» - Andrea Huwyler macht sich Gedanken über das Wünschen.

In diesen Tagen ist es fast unmöglich, abends «unbewünscht» einzuschlafen. «Fröhliche Wienachte» haben wir noch vielstimmig im Ohr; schon tönt es «Äs guets Nöis» von den Supermarktkassen. Eine ungewohnte Verbindlichkeit in uns drängt an die Oberfläche. Einfach, weil ein nächster, frei definierter Zeitabschnitt, ein Neuanfang mit viel Ungewissheit beginnt.

von Andrea Huwyler


Natürlich haben auch wir vom «pfarrblatt» gerätselt, was wir Ihnen auf der Schwelle zum neuen Jahr wünschen und mit auf den Weg geben könnten. Ob ich mir da Gedanken machen wolle ... Schwierige Angelegenheit, dieses Wünschen! Denn einen Wunsch empfinde ich als etwas sehr Persönliches, etwas, was mich oder mein konkretes Gegenüber begleiten soll.

Ohne ersichtliches Stichwort öffnet sich gedanklich Grimms Märchenbuch: «In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat ...» beginnt dort das erste Märchen. Ein Blick um uns herum oder auf Bildschirme zeigt sofort, dass wir in jeder Hinsicht weit von diesen alten Zeiten und dem Froschkönig entfernt sind. Auch hat wohl fast jede*r schon die Erfahrung machen müssen, dass sich Wünsche, gerade die verzweifelt-existenziellen, nicht im Geringsten erfüllen müssen ... Wäre es also besser, statt eines Wunsches ein Motto auszurufen?

Ich muss nicht lange überlegen. Mich begleiten seit meiner Jugend beispielsweise «Der heilige Geist setzt sich auf kein Loch» und «Ich bin an meinem Platz ebenso wichtig wie ein Erzengel auf dem seinen». Im persönlichen Alltag prägend und wirksam gegen Trägheit und gelegentliche Frustration. Doch was kann man schon allgemein Nachempfindbares sagen angesichts des gesellschaftlichen Elends – schreiender Ungerechtigkeit, Fanatismus, menschgemachter Katastrophen? Trotzig meldet sich Bertolt Brecht im Hinterkopf:

«Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich.»

Rüttelt wach und ist durchaus ein Überdenken wert, wenn auch «Kampf» ein Wort ist, mit dem nicht jede*r auch Positives verbinden kann. Ausserdem, so scheint es mir, haben viele Schweizer*innen eine besonders kritische Einstellung zum pädagogisch erhobenen Zeigefinger ... Ich persönlich halte es da ebenfalls lieber mit dem Reformator Martin Luther:

«Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.»

Kritische Geister wissen natürlich, dass dieser Ausspruch historisch nicht verbürgt ist. Wieder nichts, doch zu Jahresbeginn muss irgendetwas Hoffnungsvolles her! Also doch lieber Wunsch als Motto? – In meinem alten Notizbuch fällt mir ein verblichener, mit Schreibmaschine getippter Zettel in die Hände:

Du neues Jahr
Sei ein Jahr des Lichtes, der Wärme,
des Schaffens und des guten Apfelweines.
Nimm den Wucherern das Getreide
und lass das Getreide wuchern.
Setze dem Überfluss keine Grenzen
und lass die Grenzen überflüssig sein.
Schenke dem Fröhlichen Wein
und dem Weinenden Fröhlichkeit.
Schenke den Freunden mehr Wahrheit
und der Wahrheit mehr Freunde.
Gib den Weisen Macht
und den Mächtigen mehr Weisheit.
Gib jedem Glauben seine Freiheit
und mache die Freiheit zum Glauben aller.
Gib den Menschen Gleichheit im Gesetz
und vermeide die Gleichförmigkeit des Menschen.

(Frankfurter Neujahrsgruss, Michael Burg, 1862)

Wer auch immer dieser Mann war – ich lese seinen Wunsch fasziniert zum zigsten Mal. Immer noch aktuell, nach 157 Jahren! Aber ist «Das neue Jahr» ein Gegenüber, etwas, was Geborgenheit schenken kann, das trägt? Ist es nicht. Kommt die Lösung wenigstens in Form eines Segenswunsches daher? Ausgesprochen mit liebevoller Autorität und Charisma, im richtigen Moment, am richtigen Ort?

Sei behütet!

Das sitzt! Wirkt leider nur, wenn Vertrauen da ist ... Und schon bin ich wieder am Anfang, beim persönlichen Gegenüber. Kein Motto, kein Wunsch, nicht einmal ein vorformulierter Segen scheint ein universeller Wegbegleiter zu sein.

So bleibt mir nichts anderes übrig, als jede*m Einzelnen von Ihnen zu wünschen, dass Sie beflügelt von ihrem persönlichen Motto mutig das angehen, was hinter «Ihrer» Tür zum neuen Jahr auf Sie wartet. Dass es aber zumindest immer wieder Momente geben möge, in denen Sie sich behütet, geborgen, geliebt und gebraucht fühlen. Und das möglichst oft.

 

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