Mitfeiernde legten ihr Schoggi auf das
Harmonium. Marguerite Flückiger. Foto: zVg

Auf Zeitreise mit Marguerite Flückiger-Raymann

Manchmal ergibt es sich, dass sie an der Orgel sitzt, ihre Tochter Lektorin ist und zwei ihrer Enkelinnen ministrieren. Marguerite Flückiger-Raymann ist Organistin in Worb, seit über 60 Jahren.

Sie war zwölf, als sie anfing, die Gottesdienste in St. Martin musikalisch zu begleiten. Mit ihr begebe ich mich auf Zeitreise in die Jahre vor dem 2. Vatikanischen Konzil. Das Orgelspiel zieht sich durch Marguerite Flückigers Leben wie ein roter Faden. Mehr noch. Im Gespräch gewinne ich den Eindruck, dass sich ihr Leben um die Musik herum geordnet hat.
Das Welschjahr, so erzählt sie, machte sie zuerst in einer französischsprachigen Familie in Bern, um am Sonntag in Worb spielen zu können. Sie traf es aber nicht gut und wechselte dann doch ins ferne Genf. Ins Orgelspiel ist Marguerite Flückiger buchstäblich hineingewachsen. Katholisch-Worb bestand in den Vierzigerjahren aus ein paar wenigen Familien; die meisten waren zugezogen und in der Leinenweberei tätig. Als das Schulhaus für Gottesdienste nicht mehr zur Verfügung stand, plante man eine eigene Kirche und brauchte jemanden, der in der Liturgie spielte.
Marguerite war musikalisch und so schickte sie ihr Vater, treibende Kraft im Kirchenprojekt, nach Bern in die Dreifaltigkeitskirche zumUnterricht. Sie übte dort auf einem Harmonium; wenn sie es gut konnte, durfte sie an die grosse Orgel. Die Musik im Gottesdienst war noch meist einstimmig. In Worb, so erinnert sich Marguerite Flückiger, legten ihr die Mitfeiernden manchmal Schoggi auf das Harmonium, später kriegte sie eine Gratifikation und schliesslich eine Anstellung.

Das zwölfjährige Mädchen an der Orgel in der kleinen Notkirche Worb steht für den Pragmatismus und die Vielfalt des Katholizismus. In den katholischen Stammlanden sass ein Mann oder ausnahmsweise vielleicht eine Klosterfrau an der Orgel. Der Aufenthalt in Kirchenräumen war für Frauen vor dem Konzil klar geregelt. Der Altarraum war tabu und die Geschlechtertrennung strikt. Nach der Geburt eines Kindes galten Frauen als unrein. Der Gesang von Klosterfrauen, so die Kirchenrechtlerin Sabine Demel, hatte von einem für das Volk nicht einsehbaren Platz zu erfolgen. «In solchen Zeiten mussten sich die Frauen wie ungeliebte Kinder Gottes fühlen, ob sie so gesehen wurden oder nicht.» Das 2. Vatikanische Konzil räumte mit den weiblichen Aufenthaltsverboten und Sonderregelungen auf. So wurde es möglich: Marguerite Flückiger-Raymann spielt die Orgel, ihre Tochter amtet als Lektorin und die Enkelinnen ministrieren.

Angela Büchel Sladkovic

Literaturnachweis
Jahrbuch 1982. St. Martin Worb, hrsg. durch den Pfarreirat St. Martin Worb.
Sabine Demel, Ungeliebte Kinder Gottes? – Frauen in der katholischen Kirche. Vortrag auf der Delegiertenversammlung des bayerischen Landesverbandes des KDFB – 28.5.2009. 

 

Die Jahresserie 2016 im Überblick

Diese Website nutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung der Site stimmen Sie deren Verwendung zu und akzeptieren unsere Datenschutzrichtlinien.