In Offenheit begegnen, ohne vorgefasste Bilder. Foto: REHvolution.de / photocase.de

Begegnung als Geheimnis

Gabriela Scherer über Zeit und Offenheit

«Wie geht’s?» Oft wird diese Frage husch, husch unterwegs jemandem gestellt, zwischen Tür und Angel sozusagen. Es bleibt kaum Gelegenheit, Luft zu holen, schon gar nicht, um eine ehrliche Antwort abzuwarten. Natürlich können wir diese Worte auch als eine moderne Form von «Hallo» verstehen, welche vielleicht gar keine Antwort erwarten. Aber wir ahnen wohl selten, was sich öffnen könnte, wenn wir die Frage beim Wort nähmen.

Was braucht es, damit aus dieser Erkundung eine echte Begegnung wird? Sicherlich ist wichtig, dass wir dazu Zeit haben. Es fällt uns leichter innezuhalten, wenn wir nicht als Getriebene durch unseren Alltag hetzen, wenn unser Zeitplan genügend Luft hat, damit unvorhergesehenes Begegnen Platz hat. Wesentlich ist zudem echtes Interesse am anderen Menschen, Achtsamkeit und Offenheit für das, was wir hören, ohne schon meinen zu wissen, wie die Antwort ausfallen wird. Offenes Zuhören, ohne den eigenen Filter einzusetzen.

Doch es gibt noch viel tiefere Dimensionen. Der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas sagt: «Einem anderen begegnen heisst, von einem Geheimnis wach gehalten zu werden.» In seinem ganzen philosophischen Denken, welches in der Tradition der Dialogphilosophen wie Martin Buber oder Franz Rosenzweig steht, ermuntert er zu Begegnungen, von denen wir uns in unserem Innern berühren lassen können. Er meint damit, dem «Anderen» mit einer solchen Offenheit zu begegnen, dass dieser Mensch ein Geheimnis bleiben darf, ohne dass wir ihn mit unseren Bildern oder unserem Weltbild wieder auf unseren eigenen begrenzten Erkenntnis- und Erfahrungshorizont reduzieren. Und somit, so Lévinas, werden wir bei solchen Begegnungen angerührt. Darin offenbart sich so manche ungeahnte Lebendigkeit, ja Leben selbst in immer wieder neuer und ungeahnter Weise.

 

 

Gabriela Scherer
setzt sich als Leadership-Coach im Lassalle-Institut und mit ihrem eigenen Unternehmen für eine Führungskultur «mit Wert-Schöpfung» ein. Illustration: schlorian

 

 

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