Foto: Alex Chambers/unsplash

Beruhigen mit Zahlen

Funktioniert oft, aber leider nicht immer...

Als Kind bin ich früh, aber mässig begeistert auf Skiern gestanden. Oft waren mir die Skitage zu lang, die Füsse zu kalt und die Pisten zu steil. Um mich irgendwie durch die Tage zu lotsen, habe ich angefangen, Zahlenreihen aufzusagen. Zahlen können eine enorm beruhigende Wirkung haben. Wenn der eisige Wind mir den Reissverschluss an die Lippen klebte, die Skier auf der rutschigen Schneise den Halt verloren und die Knie ins Schlottern gerieten, begleitete mich eine innere Litanei – 1+2=3; 3+3=6; 6+4=10; ... –, die mich von unangenehmen Gefühlen ablenkte und ruhig bleiben liess. Ich will nicht behaupten, ich hätte in der zweiten Klasse schon neurobiologisches Wissen besessen, doch intuitiv habe ich richtig gerechnet. Es hat immer funktioniert.

Eine ähnliche Zahlenlitanei begegnet uns momentan in den laufend aktualisierten Covid-19-Livetickern. Schon im Februar dieses Jahres stellte der Psychoanalytiker Mario Erdheim mit Blick auf die rituell und beschwörerisch verkündeten täglichen Fallzahlen fest: «Ein Fetisch gegen die Angst ist die Zahl.» Die regelmässig heruntergebeteten Covid-19-Statistiken vermitteln uns in der Verunsicherung einen Hauch von dem, was wir jetzt alle brauchen: Sie vermessen das Unfassbare. Heute lese ich zum Beispiel, schottische Forscher hätten den durchschnittlichen Verlust an Lebensjahren durch das Covid-19-Virus berechnet. Das heimtückische Virus raube Männern durchschnittlich dreizehn, Frauen elf Lebensjahre.

Diese Studie geht mir durch den Kopf, während ich am Bett einer Patientin meines Alters sitze, mit gebührlichem Abstand und Maske natürlich. Die Frau leidet nicht an Covid-19, sondern an einem weit fortgeschrittenen Hirntumor, der sich nicht im Geringsten um die durchschnittlichen Lebenszeiten zu scheren scheint. Wie gern würde ich jetzt dieser Tatsache ein Schnippchen schlagen. Mit einem medizinstatistischen Hexeneinmaleins vielleicht?

Aber leider erweist sich der biomathematische Zahlenfetisch hier, in der persönliche Betroffenheit, als völlig gehaltlose Gedankenspielerei.

Marianne Kramer, ref. Seelsorgerin


Hexeneinmaleins


Du musst verstehn!
Aus Eins mach’ Zehn,
Und Zwei lass gehn,
Und Drei mach’ gleich,
So bist Du reich.
Verlier’ die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex’,
Mach’ Sieben und Acht,
So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins!


Aus: Faust I, Johann Wolfgang von Goethe

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