Musiktheater «Der Ranft-Ruf» – am 20. Oktober in Köniz, Pfarreizentrum St. Josef. Probenszene.
Foto: Pia Neuenschwander

Der Heilige Niklaus von Flüe - «A man for all seasons»

Der Eremit Klaus von Flüe bleibt für alle religiösen und politischen Lager eine Herausforderung: Pirmin Meier über den Lebenslauf des Nationalheiligen.

600 Jahre alt wäre er geworden – der Schweizer Nationalheilige Niklaus von Flüe. Gedenkveranstaltungen, Reden, Vorträge, kluge Abhandlungen, Theater und sogar Musicals zum Einsiedler im Ranft wurden in diesem Jahr schon abgehalten, geschrieben und aufgeführt. Trotz dieser Fülle hat der Historiker und Biograf Pirmin Meier die Übersicht stets behalten. Wir haben ihn gebeten, das Gesagte und Geschriebene einzuordnen und schon jetzt eine Rückschau auf das Bruder-Klaus-Jahr 2017 zu halten.

Von Pirmin Meier*

Trotz verändertem historischem Bewusstsein gilt: Der Eremit Klaus von Flüe (1417–1487), genannt Bruder Klaus, bleibt für alle religiösen und politischen Lager eine Herausforderung. «Wenn je einer, ein heiliger Mann», brachte es Jeremias Gotthelf schon 1851, kurz nach Gründung des Bundesstaates, auf den Punkt. Kurz zuvor hatte der fastende Landesvater als Parteiheiliger der Sonderbundskantone herhalten müssen. Andererseits berief sich aber der Luzerner Revolutionär Jakob Robert Steiger (1801–1862) noch zwei Monate vor dem Schweizer Bruderkrieg in einem Friedensaufruf «Brief an das Luzerner Volk» auf Bruder Klaus als denjenigen, der seine Landsleute vor dem Äussersten zurückhielt, eben den Friedensheiligen. Für Friedenspropaganda wurde er schon 1474, beim sogenannten Ewigen Frieden zwischen der Eidgenossenschaft und Habsburg, instrumentalisiert. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Vorbereitung der Burgunderkriege. War Wilhelm Tell, dessen Geschichte vom Schreiber von Klaus, Hensli Schriber, damals zu Papier bzw. Pergament gebracht wurde im Weissen Buch von Sarnen, die Symbolfigur der Freiheit, blieb Klaus der Mann des Friedens.

Die Entlebucher Bauern, die am 15. August 1478 zu ihm wallfahrteten, liess er in ihren Bemühungen um Loslösung von Luzern auf Granit beissen. Kein Wunder, haben sich dann der Berner Bauernführer Leuenberger und der Entlebucher Christian Schybi, beide 1653 hingerichtet, auf Wilhelm Tell und nicht auf Bruder Klaus berufen. Zu Ehren von Bruder Klaus aber liess der Bundesrat im März 1917 als Dank für die Verschonung im damaligen Weltkrieg landesweit mit allen Glocken läuten. Ein Symbol der mehrheitlich freisinnigen Behörde für die Einstellung des Kulturkampfes. Ein Beitrag also auch für den Frieden im Innern.

Dies änderte nichts daran, dass im Jahre 2017 die verschiedenen Lager «ihren» Bruder Klaus separat und teilweise kontrovers gefeiert haben. So Churs Bischof Vitus Huonder zusammen mit alt Bundesrat Christoph Blocher am 19. August bei einem Massenauflauf konservativer und traditionalistischer Kräfte auf Flüeli-Ranft. Wohingegen der in Bern lebende Historiker und alt Nationalrat Josef Lang am ökumenischen Gedenktag am 1. April in Zug über den Satz «Nimm alles mir, was mich hindert zu dir» reflektierte. Das Bruderklausengebet enthalte eigentlich alles, was die Reformation als Verwesentlichung des christlichen Glaubens angestrebt habe.

Lang gab eine über die Lagergrenzen hinaus bemerkenswerte Deutung des Zaun-Motives. Nicht nach dem Motto «Machet den Zun nicht zu wit» von Hans Salat 1536, sondern gemäss der Brunnen-Vision von Bruder Klaus. Die Schweiz als ein eingehagtes Gelände mit Leuten, die dort tagaus und tagein «chrampfen». Das Wertvollste im Innern, den Brunnen mit Wein, Öl und Honig, übersehen sie jedoch. Die Kehrseite des protestantischen Arbeitsethos.

Das Zaun-Motiv wurde indes Klaus nicht erst später in den Mund gelegt. Obwaldens Ratschreiber Hensli Schriber, Überlieferer der Befreiungssage, erklärte den Obwaldner Politikern, darunter dem Bauern Klaus von Flüe, bereits 1459 das Zaunrecht und damit die Pflicht zum nachbarschaftlichen Frieden. «Einfrieden» ist ein Begriff, der mit dem Hagrecht zu tun hat, dessen Verletzung Prozesse, «Unfried», auch Gewalttätigkeit mit sich bringt. Letzteres illustrierte noch Gottfried Keller mit der Erzählung «Romeo und Julia auf dem Dorfe». Zwei Bauern ruinieren ihre eigene Existenz und sogar diejenige ihrer Kinder im Streit um ihre Grundstücksgrenze.
Dass Grenzen eingehalten werden müssen, war und ist der Sinn der alten Bannumgänge zum Beispiel in den Kantonen Luzern und Baselland. Friede ist nicht nur eine Aufgabe, auch eine Pflicht. So steht es im alten Nidwaldner Landrecht von 1456, also aus der Zeit des eidgenössischen Schiedsrichters Klaus von Flüe.

Dass Bruder Klaus im Gegensatz zum abgelehnten Einsiedler- und Wallfahrtswesen bei den Reformierten von Ulrich Zwingli bis Karl Barth in hohem Ansehen stand, hängt eng mit Bern zusammen. Genau genommen mit Chorherr Heinrich Wölflin, Zwinglis Lateinlehrer, der dann heiratete und zur Reformation übertrat. Bei Wölflin dürfte auch Niklaus von Flüe junior, der spätere Theologiestudent in Basel und Paris, Latein gelernt haben. Die Republik Bern bezahlte dem Sohn des Landesheiligen das Studium. Wölflin veröffentlichte kurz nach 1500 die erste historisch recherchierte Biografie von Bruder Klaus. Im Auftrag des Landes Obwalden, gewidmet aber dem Walliser Bischof und späteren Kardinal Matthäus Schiner. Derselbe hatte nicht nur in Marignano mit Feldprediger Ulrich Zwingli zusammengearbeitet, sondern 1519 auch massgeblich zur Berufung des Toggenburgers und Glarner Pfarrherrn zum Pfarrer vom Zürcher Grossmünster beigetragen. Im Gegensatz zu seinem Ruf war Schiner ein Mann der Reform. Als nämlich in Bern beim sogenannten Jetzerhandel (1507) betrügerische Wunder simuliert wurden, plädierte er für scharfes Durchgreifen. Auch setzte er sich nach dem Tod der Renaissance-Päpste Julius II. und Leo X. für die Wahl des Holländers Adrian von Utrecht ein, dem Hoffnungsträger des Erasmus von Rotterdam, dem jedoch nur eine kurze Amtszeit beschieden war. Schiner selber starb 1522 in Rom an der Pest. 1502 hatte er die untere Ranftkapelle erbauen lassen, womit der Kult von Bruder Klaus vor Ort eine bleibende Grundlage erhielt.

Was das Söldnerwesen betrifft, wäre es ein Irrtum zu glauben, Klaus von Flüe, zeitweilig selber in Nürnberg Söldner, hätte für dessen Abschaffung plädiert. Wie später im Kapitalismus, war für die Bergler nicht die Abschaffung des Söldnerwesens eine Option, sondern, wie Schiner es wollte, dessen Regulierung. In Kriegen sollten nicht Schweizer gegen Schweizer antreten, wobei die Walliser wie die Genfer, St. Galler und Bündner als «Zugewandte» ebenfalls als Schweizer galten.

Dass die Geschichte von Bruder Klaus keine reine Männergeschichte ist, betonten die Biografen und Chronisten schon früh. Über die bedeutende Stellung Dorotheas beziehungsweise ihre Rechte als Ehefrau schrieb der in Zwinglis Zürich verstorbene Humanist Peter Numagen ein bedeutendes Gutachten. A propos Frauenrechte: Die mit Dorothea etwa gleichaltrige Gattin des Obwaldner Ratsherrn Amschwand ist die erste Frau der Schweizer Geschichte, die ihren Mann wegen häuslicher Gewalt (beim Landammann) anzeigte. Betont wird, dass Klaus von Flüe seine Frau weder geschlagen noch betrogen hat, wohingegen etwa Obwaldens damalige Landammänner gemäss ihren Testamenten nicht wenige uneheliche Kinder hatten.

Historisch falsch ist die Vorstellung, Klaus von Flüe habe mit seinem Eremitendasein – in Rufweite seiner Familie – Frau und Kinder im Stich gelassen. 50 Tage vor seinem Aufbruch als Pilger, welcher dann in Liestal abgebrochen wurde, war sein Sohn Hans bereits mit Elsbet von Einwil, Tochter des Landammanns, verheiratet. Dieses Mädchen (gesetzliches Heiratsalter war damals 12 Jahre, sie dürfte freilich älter gewesen sein) brachte ein bedeutendes Grundstück als Morgengabe mit in die Ehe, welches Klaus dann noch gejätet und von Steinen befreit hatte. Dabei war Klaus spätestens ab seinem Zusammenbruch in Liestal nicht mehr arbeitsfähig. Als fast einziger Einsiedler hat er, nach dem Zeugnis der Eremitenregeln, nämlich nicht gearbeitet. Wohl kaum, weil er zu faul gewesen war, sondern weil er es mit seinen Absenzen, Visionen und seiner Nahrungslosigkeit («heilige Anorexie») schlicht nicht mehr konnte.

Der Schriftsteller Cäsar von Arx (Der heilige Held, 1936) hat an der Familiengeschichte von Klaus von Flüe wohl richtig dargestellt, dass sich Dorothea um den Aufbruch ihres Mannes vor allem deswegen Sorgen machte, weil er kaum mehr in einer Verfassung war, die eine lange Pilgerreise ermöglicht hätte. Kirchenrechtlich legal war Klaus von Flüe erst ab 1469 Einsiedler. Dass er ohne Erlaubnis des Bischofs schon ab November 1467 angeblich nahrungslos im Ranft lebte, wurde als Teufelseingebung verdächtigt. Dass der Weihbischof von Konstanz Bruder Klaus zum Essen zwang, grenzte an Folter. Glücklicherweise waren aber der Obwaldner Landammann Heintzli und Berns Schultheiss Adrian von Bubenberg bei jener strengen Prüfung zugegen. Sie drohten dem Prälaten: «Sollte Bruder Klaus bei dieser Prüfung sterben, kommen eure Exzellenz zu einer Verkürzung eures Lebens.»

So empfahl es sich, die Einsiedelei bischöflich anzuerkennen, was vom Volk schon fast als Heiligsprechung zu Lebzeiten interpretiert wurde. So kam die Schweiz zu ihrem Landesvater, dessen Rang und Einfluss sich auch im Jahre 2017 als unverwüstlich erwiesen hat.

 

*Pirmin Meier (70) studierte Literatur, Philosophie und Geschichte an der Universität Zürich. Promotion bei Peter von Matt. Er war bis 2012 Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Beromünster LU. Er ist Autor zahlreicher Monografien, Biografien und Aufsätze. Er lebt in Rickenbach LU. Buchtipps: Pirmin Meier: Ich Bruder Klaus von Flüe – Eine Geschichte aus der inneren Schweiz, 3. Auflage, Union-Verlag, Zürich 2015. Pirmin Meier, Josef Lang: Kulturkampf. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute. Hier und Jetzt, Baden 2016

 

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