Christsein ist mehr als fromme Gebete. Urs Häner vor dem Sentitreff in Luzern. Foto: Roger Grütter

Der Werktagschrist

Politik und Theologie, Gesellschaftskritik und Nachfolge Jesu in Einklang: Der Arbeitertheologe Urs Häner zeigt, wie Theologie modern, politisch und brisant sein kann.

Das Luzerner Untergrund-Quartier war immer Einwandererquartier. Zuerst kamen die Entlebucher, dann die Deutschen, die Italiener, Tamilen, Afrikaner. Migranten gab es, gibt es, und wird es geben. Auch Urs Häner ist ein Einwanderer. Wenn auch nicht von weit her.

Eigentlich sieht er aus wie ein Pilger, ein Wüstenvater vielleicht, mit langem Rauschebart, leicht ergrautem Haupthaar, Sandalen an den Füssen. Aber Urs Häner hat nie die Einsamkeit gesucht. Im Gegenteil, er ging dorthin, wo viele Menschen aufeinander leben, wo Wörter wie Dichtestress und Gentrifizierung fallen, wo Menschen zusammenleben, wo Menschen einsam sind, wo Fabriken arbeiten. Urs Häner ist ein Stadtmensch.

Aufgewachsen in Bern, zog Urs Häner wegen der Theologie nach Luzern. Er schrieb sich an der theologischen Fakultät ein und wollte in die Pastoral. «Für mich war Theologie ein Hilfsmittel, um Vikar zu werden. Ich wollte sein wie mein Jugendseelsorger – und kam auf die Welt, als ich realisierte, dass es eben noch andere Berufungen gibt als die zum Priester.» Häners Heimatpfarrei in Bern war die Pfarrei Dreifaltigkeit. Die war im Jahr 1975 noch geprägt von männlicher, priesterlicher Theologie. Dass Häner in Luzern mit Frauen Theologie studierte, war für ihn damals eine Überraschung, «dadurch, dass es in der Dreif 1975 nichts anderes als Vikare gab» - allerdings eine schöne.

Häner konnte der geplanten Vikarslaufbahn aber bald wenig abgewinnen. Er wollte in der Arbeitswelt tätig sein, bei den Menschen, mit den Menschen. Nach einem Aufenthalt in Berlin zog er 1985 zurück nach Luzern – und landete mitten im Stadtleben. Häner fasste Fuss im Untergrundquartier – dem Gegensatz zum Obergrund: Das Arbeiterquartier wurde zu seiner Wahlheimat, und das Epizentrum seines Wirkens war und ist die Baselstrasse.

Früher frequentiert von Arbeitern, Prostituierten und Studenten, startete hier die Geschichte des Sentitreffs: Eines Quartiertreffs für alle, mitgegründet von Josef Moser, einem Arbeiterpriester und ehemaligen Jugendseelsorger aus Bern. Moser und Häner organisierten Weihnachtsfeiern, Bibelstunden, Fussballabende. Zuerst an wechselnden Orten, wo halt gerade Platz war, ab 1989 im ehemaligen Sentispital – wo der Sentitreff noch heute steht.

In all den Jahren drehte sich Häners theologisches Engagement um die Arbeit. Wert der Arbeit, Arbeitsgerechtigkeit, Arbeitslosigkeit. Ein Arbeiterpriester war er zwar nie, dafür Arbeitertheologe. Man kann Urs Häner nicht verstehen, wenn man nicht den Begriff versteht, den er selbst benützt, um sich zu beschreiben. «Ich empfinde mich als Werktagschristen. Mein Christsein ist nicht auf den Sonntag zu fokussieren, sondern die sechs anderen Tage sind genauso wichtig.» Man könne nicht am Sonntag in die Kirche gehen, die Predigt hören und die eigentliche Botschaft, die Handlungsaufforderung, am Montagmorgen wieder vergessen. Für Häner muss das Christsein weiter gehen als Bibellektüre und fromme Gebete: Christsein bedeutet, zu kämpfen für Gerechtigkeit, sich zu organisieren, aktiv zu sein und sich einzusetzen.

Häners Theologie wurde während seiner Studienzeit geprägt durch die südamerikanischen Befreiungstheologen. «Es war die Zeit der sandinistischen Revolution, von Ernesto Cardenal, von Personen, welche problemlos das Evangelium und ein Politisch-Sein verbinden konnten: Das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.» Häner betont, dass er kein Revival des Pfarrers wolle, der von der Kanzel herunter CVP-Parolen predige. Nicht nur, weil er nicht auf der Linie der CVP politisiere, sondern weil sich die Kirche von ihrer Selbstwahrnehmung als Machtfaktor befreien müsse. Das bedeute allerdings nicht, dass sie sich nicht in herrschende gesellschaftliche und politische Verhältnisse einmischen solle.

Jesus lebte dieses kompromisslose, politisch-gesellschaftliche Engagement schliesslich vor. «Man muss es einfach machen wie andere Player auch: offenlegen, dass man die Weisheit nicht mit dem Löffel gefressen hat, sondern dass man eben aus der Auseinandersetzung mit einer biblisch-christlichen Tradition zu einer bestimmten Position kommt.»

Die bestimmte Position ist bei Häner der unbedingte Einsatz für die kleinen Leute. Er will Platz schaffen für die, die sonst keinen Platz haben: Die Familie in Geldnot, der Einwanderer auf Arbeitssuche, die alte Frau, die einsam ist. Und immer wieder die Menschen, die für wenig Lohn viel arbeiten, von frühmorgens bis spätabends schuften und doch nur einmal im Jahr Ferien machen können. Häner ist kein Revolutionär, kein Umstürzler – nicht im grossen Rahmen. Im Kleinen schon.

Das spürt man zum Beispiel, wenn er anfängt, über Gentrifizierung zu reden. «Ich will, dass am Ende des Aufwertungsprozesses im Quartier, der jetzt stattfindet, die Leute, die jetzt hier wohnen, immer noch Platz haben. Das ist natürlich bei steigenden Mietpreisen relativ bald Wunschträumen. Aber ich kämpfe dafür, dass es eine gute Mischung aus Mietpreisen gibt, einen Mix aus unterschiedlichem Wohnraum – nur zu sagen, das ist das Unterschichtenquartier, da stellen wir die Armen, Alten und Ausländer hin, da müssen wir auch gar nicht mehr investieren, das ist ganz falsch.»

Wohnraumpolitik, Arbeitspolitik – ist das wirklich noch Theologie, oder einfach Politik mit christlichem Anstrich? «Ich werde oft gefragt, ob ich mit Theologie aufgehört habe. Da sage ich ganz klar Nein, ich habe nur beschlossen, mit der Theologie kein Geld zu verdienen.» Den Priesterberuf hat Häner liegen gelassen, zugunsten eines Lebens am Puls der Arbeit. Für ihn ist klar, dass diese dezidiert linken Themen und Standpunkte im Kern der christlichen Botschaft zu finden sind. «Papst Franziskus hat es sogar gewagt zu sagen, diese Wirtschaft töte. Die globalisierte Wirtschaft ist ein mächtiger Player, dem man manchmal nicht viel entgegensetzen kann. Aber man muss hinstehen, sich organisieren, kämpfen.»

Die gnadenlose Ausbeutung von Drittweltstaaten, Waffenexporte der Schweiz in Bürgerkriegsländer, Millionenzahlungen von Rohstoffhändlern an afrikanische Despoten – die Motivation für den Kampf gegen diese Zustände zieht Häner direkt aus der Bibel. Aus den Erzählungen von Befreiung, von Flucht vor Knechtschaft, von sozialer Gerechtigkeit. Man dürfe sich nicht in irgendwelchen Bibelversen verlieren, sondern man müsse den grossen Bogen aufrechterhalten. «Ich denke, wir Christinnen und Christen haben mit der grossen Utopie vom Reich Gottes die Möglichkeit, ein bestimmtes Ziel anzustreben, anzusteuern. Eines, das Andere vielleicht säkular benennen. Von dem man sagt, das ist unsere Mindestforderung – weniger akzeptieren wir nicht.»

Sebastian Schafer, Foto: Roger Grütter

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