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Die Ernte eines Lebens

Gedanken aus der Spitalseelsorge. Eine Kolumne der Seelsorger*innen am Inselspital Bern.

Von Simone Bühler.

 

Seine Frau habe ihm ein paar Mal gesagt, er solle doch etwas aufschreiben, so etwas wie ein Lebenslauf, aber er sei nicht gut im Schreiben und überhaupt, er wisse auch nicht recht. Sein Leben sei nichts Besonderes gewesen. Spontan biete ich ihm an, dass ich seine Geschichte aufschreiben würde, wenn er das möchte, und staune selber über dieses kühne Angebot.

Assoziativ geht er vor beim Erzählen und in mir entstehen Bilder von Orten, wo er gelebt hat, von Bäumen, die ihm viel bedeuten, von seinen Erfahrungen im Welschland als Lehrling oberhalb vom Genfersee. Er wäre lieber Buchhalter geworden, statt den Bauernbetrieb seines Vaters zu übernehmen, aber damals, gibt er zu bedenken, hatte er keine andere Wahl. Ein Glück war es für ihn, dass er spät noch eine Frau kennenlernen durfte, die ihm gefiel. Eine ausgezeichnete Köchin.

Als er von seinen Söhnen zu erzählen beginnt, gerät er ins Stocken. Ein Name fehlt, fällt ihm nicht ein. Bevor der Jüngste auf die Welt kam, war noch einer, beteuert er. Ein Junge, aber er war tot. Meine Frau war im achten Monat schwanger und hat gemerkt, dass das Kind sich nicht mehr bewegt. Nachdem sie ihn geboren hatte, durfte sie ihn kein einziges Mal sehen, aber ich sehe ihn bis heute, wie er daliegt, mein totgeborener Sohn.

Je länger er erzählt, desto vollständiger wird das Bild. Von Brüchen und Scherben ist sein Leben geprägt, von Verzweiflung und Verzicht, aber es gab auch die guten Momente. Skiferien mit den Kindern in Adelboden, das haben wir uns geleistet, jedes Jahr, und ich habe extra immer einen Melker engagiert.

Einen weiteren Sohn haben sie später bei einem Autounfall verloren. So viel Leid unter einem Dach, denke ich, und dann erzählt er mir, dass seine Frau unglaublich gut jassen kann und dass sie oft am Sonntagnachmittag die Jasskarten hervorholten. «Meine Frau», sagt er, «ist ganz anders als ich. Sie macht sich weniger Gedanken. Sie lebt einfach und sagt: ‹Auch der Tod gehört zum Leben. Einmal sind wir tot und das war’s.› Für mich ist das viel schwieriger.»

Zu zweit stehen sie einige Wochen später ganz spontan vor meiner Tür. Ich bitte die beiden herein und er überreicht mir ein Glas Honig. «Die Jungen machen jetzt mit den Bienen», sagt er und fügt hinzu: «Die Gespräche mit Ihnen haben mir viel geholfen. Dieser Honig ist nur ein ganz kleiner Dank.» Wie passend, denke ich, ein Glas Honig! Die Ernte eines Lebens.

Simone Bühler, ref. Pfarrerin

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