«Füreinander da sein, Räume schaffen, um zum Glauben finden zu können. Auch nur kleine Ansätze davon als wertvoll annehmen.» Foto: Andreas Krummenacher

«Die Kirche ist ein Ort, wo die Menschen Sorge tragen zueinander»

Der Pfarrer von Gstaad, Thomas Müller, ist ganz und gar Seelsorger. Nun geht er in Pension.

Thomas Müller, katholischer Pfarrer im Saanenland und im oberen Simmental, geht in Pension. Ein Besuch, bei dem es der gute Mensch Müller zum Schluss auf den Punkt bringt: «Ich bin sehr dankbar, dass ich hier im Guten weggehen kann. Es ist ein Abschied in gelöster Stimmung. Ich komme von aussen und gehe jetzt ganz bewusst wieder.»

Thomas Müller hat alles exakt geplant. Er holt den Besucher im winterlichen Gstaad vom Bahnhof ab, zeigt auf dem Weg zur katholischen Kirche St. Josef das Restaurant, wo später das Mittagessen vorgesehen ist, und führt durch die prächtig renovierte Kirche. Die erste Ansprechperson im Pfarrhaus ist dann Brigitte Käser. Die Pfarreisekretärin findet nur lobende Worte für ihren Chef. «Er ist immer sehr korrekt», fügt sie hinzu.

Das Gespräch mit dem Pfarrer findet in dessen Wohnzimmer statt. Ein grosser Tisch, ein Sofa, ein Bücherregal. Man fühlt sich sofort wohl. Gleich zu Beginn will Thomas Müller das Lob der Sekretärin nicht einfach so gelten lassen: «Ihre Aussage meint vielleicht auch ein bisschen, dass ich extrem pingelig bin.» Das ist typisch für ihn. Stets auf den Ausgleich bedacht, sich selber dabei zurücknehmen, nicht in den Mittelpunkt stellen. Alles andere wäre für den gebürtigen Luzerner wahrscheinlich ein Graus.

Er ist glücklich in Gstaad, hat die Pfarrei vor zehn Jahren nach einer zweijährigen Vakanz übernommen, und er hat eine lange Zeit der Polarisierung beendet. Er arbeitete zuvor in der Marienpfarrei in Bern, in Arbon, Spreitenbach und Kreuzlingen.
Er wollte dann noch einmal etwas ganz Neues ausprobieren. Hinaus aufs Land und in die Höhe. Für die Aufgabe in Gstaad kaufte er sich sein erstes Auto. In den städtischen Arbeitsorten zuvor brauchte er keines. Im Oberland sah das nun ganz anders aus. Von Lenk über Saanen bis Zweisimmen und Gstaad, über die Wasserscheide und zurück – die Pfarrei ist riesig.

Thomas Müller ist ein feingliedriger Mann, intelligent, wach, überlegt. Er kann auch überaus leidenschaftlich werden. Nach schönen Erlebnissen gefragt, erzählt er mit Verve vom letzten Sonntag der Völker. In Zweisimmen beispielsweise hätten Menschen in sieben verschiedenen Sprachen Fürbitten vorgetragen. In grosser Eintracht. Und diese Menschen seien nicht etwa Touristen gewesen. Diese Zusammengehörigkeit, dieses Aufeinander-Achtgeben – das ist ihm wichtig.
Alle Menschen sind ihm gleich viel wert. Ohne Ausnahme, alle sind bei ihm angenommen, alle können so sein, wie sie eben sind. Für Müller ist die Kirche ein Ort, wo die Menschen Sorge tragen zueinander.

«Die Kirche muss Räume der Stille, der Andacht und der Kraft anbieten. Es muss Orte des Zusammenseins geben. Ganz verschiedene Menschen können zusammenkommen und eine gewisse Verbundenheit spüren.» Der Pfarrer soll Kontakt pflegen zu den Menschen, vor allem zu jenen, die ihn brauchen. Er soll ihnen helfen, einen Weg zum Glauben zu finden: «Glauben wurde für mich in letzter Zeit ein immer wichtigeres Phänomen. Mut machen zum Glauben. Auch nur kleine Ansätze von Glauben sind wertvoll. Viele meinen, entweder man glaubt oder man glaubt nicht.

Wenn man gläubig ist, müsse man eine Meisterleistung in eben diesem Glauben erbringen. Das ist aber nicht so. Vielleicht spüre ich bloss, dass ich mich auf Gott verlassen kann. Ich spüre, dass mir vergeben wird. Ich spüre dieses Vertrauen, ich spüre, dass die Verbundenheit mit den Verstorbenen nicht vorbei ist. Ich spüre, dass es eine Kraft gibt, die über mich hinausgeht und die es gut meint mit mir. Vielleicht spüre ich das nur und das darf auch bloss im Ansatz vorhanden sein. Man soll von sich nicht zu viel erwarten. Es kommt gut mit mir und mit uns und mit der Welt.»

Von den 2700 Pfarreiangehörigen stammen 600 ursprünglich aus Portugal. «Gstaad ist ein reicher Ort, oftmals geht aber vergessen, dass es ganz viele Menschen braucht, um die Chalets zu bauen, in den Hotels zu putzen und die Teller zu waschen», so Müller. Es ist für ihn oftmals beschämend, wie diese Menschen behandelt werden. Thomas Müller wird darob ganz still, seine Stimme bricht ab. Nach einer langen Pause sagt er: «Das macht mich sehr nachdenklich.

Nehmen wir diese Menschen genügend wahr? Wie können sich diese Menschen zur Wehr setzen? Nehmen wir beispielhaft eine Familie in Schönried. Die Eltern arbeiten in den Hotels. Der Verdienst ist klein. Zwei Kinder. Wie machen die das mit den Kindern, denn die Rahmenbedingungen werden ihren Bedürfnissen nicht gerecht. Es sind auch keine Grosseltern vor Ort. Wer nimmt das wahr? Die Kirche muss hier viel mehr den Mut haben, die Stimme zu erheben.»

Thomas Müller war ein «frommer Bub», wie er sagt. Er hat viel gebetet, war ängstlich, zurückhaltend, Schutz suchend. Diesen hat er schon früh in der Kirche gefunden. Er ist viel und gerne in die Kirche gegangen. Religion und Glauben haben ihn vor der Welt geschützt. Der Wunsch, Priester zu werden, kam tief aus seinem Inneren. Inzwischen ist er es seit 39 Jahren.
Die Zurückhaltung ist geblieben. Es ist ihm nie leicht gefallen, aktiv auf Menschen zuzugehen, das Öffentliche des Amtes wahrzunehmen: «Ich habe keinen exklusiven Fanclub, ich bin nicht der Typ, der die Menschen an sich bindet, der ihnen charmiert. Ich bin ein Fremder geblieben hier oben. Und das darf auch so sein. Aber man sagt mir, ich sei für alle da gewesen. Das ist für mich sehr positiv.»

Er nimmt sich zurück, ist alles andere als ein Guru. Bei ihm gibt es keine Lager, keine Fraktionen. Thomas Müller geht gerade darum mit positiven Gefühlen. Die Menschen werden ihn vermissen. Beim Mittagessen entpuppt sich Thomas Müller als belesener Mann. Romane, Sachbücher. Auch über Film und Theater kann man sich exzellent mit ihm unterhalten. Er braucht das zur Inspiration. Das sind auch Dinge, denen er sich künftig vermehrt widmen will. Ansonsten findet er die Frage, was er denn machen werde, eher mühsam. Vielleicht zunächst einfach mal nichts. Sicher ist, dass er im Oberland bleibt.
Seelsorger Thomas Müller hat sich am Ende in dieses Wunderland doch etwas verliebt.

Andreas Krummenacher

 

Verabschiedung in die Pension
Offizielle Verabschiedungen von Thomas Müller in den Gottesdiensten an der Lenk (9. Dezember, 18.00), in Zweisimmen (10. Dezember, 09.15) und in Gstaad (10. Dezember, 11.00).

Pfarrei Gstaad

 

 

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