Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin. Foto: fotolia, joachimplehn

«Ein Widerspruch zum wahren Christentum»

Auch nach Ende des 2. Weltkriegs war antisemitisches Gedankengut nicht einfach verschwunden. Dementsprechend viel Anstrengung benötigte der bald entstehende Dialog zwischen Juden und Christen

Nach dem 2. Weltkrieg hielt sich der Antisemitismus hartnäckig, auch in kirchlichen Kreisen. Entsprechende theologische Schriften stiessen auf positives Echo. Unabhängig vom Holocaust hielten sich die Bilder von den «Gottesmördern». Die 1946 entstandene Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft war eine Vorreiterin des interreligiösen Dialogs. Erst 20 Jahre später kamen ähnliche Signale aus dem Vatikan.

Mit dem Kriegsende 1945 war der Antisemitismus nicht einfach verflogen. Die Rassentheorie, welche die physische Vernichtung des jüdischen «Ungeziefers» angeblich legitimierte, trat in den Hintergrund, doch eine helvetische Ausprägung des Antisemitismus blieb unabhängig von Nationalsozialismus und Holocaust erhalten. Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund, der die Flüchtlingspolitik wesentlich geprägt hatte, strebte nach anderen Formen, um die jüdische Minderheit zum Verschwinden zu bringen: durch Assimilation, die vollständige Aufgabe der jüdischen Identität.
Dazu kam die seit Jahrhunderten tradierte christliche Ablehnung des Judentums. So behielten die Juden in der Passionsgeschichte weiterhin ihren Ruf als «Gottesmörder». In seiner Schrift «Kompass durch die Judenfrage» publizierte der protestantische Pfarrer Walter Hoch 1944 eine höchst fragwürdige Zusammenstellung von Talmud-Zitaten. Dabei verband er in abstruser Weise klassische antijudaistische Stereotype mit völkisch-antisemitischen Diskursen. Weitere antijudaistische Schriften folgten sowohl auf protestantischer als auch auf katholischer Seite.

Umso erhellender waren die Bestrebungen, einen christlich-jüdischen Dialog aufzubauen. Vorbilder waren seit den Zwanzigerjahren in den USA zu finden, die unmittelbar nach dem Krieg die Gründung einer internationalen Dachorganisation für solche Vereinigungen weltweit einforderte. Zudem sollte eine internationale «Dringlichkeitskonferenz gegen den Antisemitismus» stattfinden. Letztere kam 1947 in Seelisberg im Kanton Uri zustande. 65 protestantische, katholische und jüdische Teilnehmer aus Europa und den USA verfassten zehn Thesen, die auf die Gemeinsamkeiten der Religionen verwiesen. In der Schweiz waren die Flüchtlingshelfer Gertrud Kurz und Paul Vogt bereits 1945 aktiv geworden. Bereits im April 1946 entstand die «Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Antisemitismus ». Der erste CJA-Präsident Erich Bickel bedauerte denn auch in der Gründungssitzung das «Versagen der Schweiz und der Kirche». Da er jedoch die Abwehr des Antisemitismus ausschliesslich in einen theologischen Kontext stellte, blieben politisch oder juristisch geschulte Mitglieder aussen vor.
Die CJA gewann rasch Unterstützung. 1948, zwei Jahre nach der Gründung, zählte die Organisation bereits 480 Mitglieder, vier Jahre später waren es 866. Auf christlicher Seite waren es vor allem Protestanten, die den Dialog unter Gleichwertigen befürworteten. Die römischkatholische Kirche zögerte. Eine Begegnung unter gleichwertigen Gesprächspartnern widersprach dem Anspruch des Vatikans, die allein wahre von Christus für alle Menschen gestiftete Kirche der Menschen zu sein.

Um dem Antisemitismus Gegensteuer zu geben, schuf der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) die Kommission «Abwehr und Aufklärung». Sie hatte das Ziel, bei antisemitischen Publikationen zu intervenieren, aber auch präventiv zum Beispiel an Schulen zu informieren. Für den SIG wurde die CJA nach Einschätzung des Historikers Zsolt Keller in den Fünfzigerjahren zur wichtigsten nichtjüdischen Stütze. Bis Anfang der Sechzigerjahre etablierte sich eine breitere Akzeptanz der jüdischen Minderheit in der Gesellschaft, einschliesslich Kirchen und Politik. Zum Ausdruck kam dies insbesondere 1966 an der Feier zu 100 Jahren Emanzipation der Schweizer Juden. SIG-Präsident Georges Brunschvig brachte es in seiner Rede auf den Punkt: «Zu lange wurde in der Vergangenheit der Antisemitismus als zulässiger, salonfähiger Bestandteil eines politischen Machtkampfs betrachtet. Dies war und ist falsch. Antisemitismus ist stets ausgerichtet auf ein Ziel, das in krassem Widerspruch steht zu den Errungenschaften einer auf demokratischen Grundsätzen beruhenden gesellschaftlichen Ordnung und auch zum wahren und echten Christentum.»

Auf katholischer Seite kam in den Sechzigerjahren ebenfalls Bewegung in den Umgang mit der jüdischen Minderheit. Das Zweite Vatikanische Konzil erarbeitete unter Papst Johannes XXIII. bis 1965 die Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, die «nostra aetate». Diese Schrift stellte das Verhältnis der Katholischen Kirche auf eine neue Grundlage. Sie anerkennt «Wahres und Heiliges in den anderen Religionen» und bestätigt die bleibende Erwählung des Judentums, in dem das Christentum wurzelt. Die Erklärung bedeutete eine Abkehr der Römischkatholischen Kirche von dem Anspruch «ausserhalb der Kirche kein Heil».
Mitte der Sechzigerjahre also war die jüdische Minderheit in der Schweiz weitgehend etabliert. Die Öffnung der Kirchen hatte dazu beigetragen, ebenso die neuen Erkenntnisse über das Ausmass des Holocaust mit 6 Millionen ermordeten Juden. Das erwachte Schuldgefühl über die eigene Passivität im Krieg trug dazu bei, dass antijüdische Äusserungen tabuisiert oder gar sanktioniert wurden. Dazu kam die wachsende Israel Begeisterung. Vor allem die Generation, die den Krieg durchlebt und Aktivdienst geleistet hatte, bewunderte den Kleinstaat am Mittelmeer, wie er nach dem David-Goliath-Prinzip die grossen arabischen Nachbarstaaten besiegte. Wie sich zeigen sollte, war das Image der Schweizer Juden eng gekoppelt mit dem Image Israels – in guten wie in schlechten Zeiten.

Hannah Einhaus

Zum Dossier 150 Jahre Emanzipation der Schweizer Juden

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