Foto: Matheus Ferrero / unsplash

Eine Reise nach Spitalien

Marianne Kramer beobachtet einen erstaunlichen Zusammenhang

Wieder einmal selber als Reisende in Spitalien unterwegs, fällt mir eine Besonderheit der landesüblichen Kommunikation in die Augen. Die in Spitalien Beschäftigten sind stets aufrecht und schnell unterwegs. Sie laufen oder stehen, wenn sie die spitalienischen Zimmer betreten, wenn sie sich den Betten nähern, wenn sie verweilen, lauschen, beraten, verabreichen oder unterstützen.

Manchmal aber, wenn der eine oder die andere der in den Betten Liegenden oder in den Rollstühlen Sitzenden die Fassung verliert, zu weinen oder zu schimpfen beginnt, geschieht etwas Erstaunliches, ich habe es in wenigen Tagen mehrmals beobachtet. Dann begibt es sich nämlich, dass die sonst so geschäftigen Beschäftigten aus ihrer Rolle fallen und die für sie vorgesehene aufrechte Körperhaltung verlassen. Sie gehen in die Hocke! Und einen Moment lang hält ganz Spitalien den Atem an, als würde die Zeit kurz stehen bleiben.

Gegen Mitternacht hat meine Bettnachbarin die Nase voll. Der Gips ist zu eng und drückt ihr die Ferse ab. Die Verlegung ins Ferienbett bereitet ihr Kummer und überhaupt ist sie nicht einverstanden mit dem Treppensturz, der sie hierher katapultiert hat. Tränen vermischen sich mit Ärger. Die Pflegende wird herbeigerufen. Und jetzt geschieht es wieder. Die junge Pflegefachfrau tritt ans Bett und geht langsam in die Hocke, bis ihre Augen auf gleicher Höhe sind – wie die Augen der Klagenden. Ich höre gedämpfte Stimmen, ohne dem Inhalt zu lauschen. Es wird friedlich im Zimmer, etwas an der Atmosphäre verwandelt sich. Nur ganz kurz. Und schon pulsiert es wieder weiter. Es klingelt draussen, Rufe sind zu hören, die Pflegende erhebt sich und steuert mit festen Schritten das Stationszimmer an.

Der Zauber ist vorbei, aber im Zimmer ist Ruhe eingekehrt, vielleicht ist die Nachbarin sogar eingeschlafen. Der Theologe Fulbert Steffensky schreibt, Gott gehe vor den Menschen in die Knie. Statt autoritär und professionell, komme uns Gott immer wieder in Schwäche und Hilflosigkeit entgegen, zum Beispiel als schutzloser Säugling in Windeln. Denn nicht die Macht eines über uns Stehenden könne uns erlösen, sondern einzig Aufmerksamkeit und Zuneigung auf Augenhöhe.

Marianne Kramer, ref. Seelsorgerin

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