Der Autor Pierre Kretz erhellt kenntnisreich die Mentalität einer ganzen Epoche.
Foto: Jean-Louis Hess

Elsässische Lebensmuster

Ein Buch, das man gelesen haben muss!

Verführerisch liegt sie im Herbstlicht da, diese Landschaft mit ihren Dörfern, die sich an die Vogesenhänge schmiegen, mit Rebbergen, Schluchten und Hügeln, roten Backsteinkirchen, Gasthäusern, die mit Flammenkuchen, «Choucroute» und Gewürztraminer locken: das Elsass, l’Alsace. Aber diese Region, eingebettet zwischen den zwei einstigen Erzfeinden Frankreich und Deutschland, ist von den Launen der Geschichte gebeutelt worden, hat seit 1870/71 je nach Kriegsausgang die Sprache, die Kultur, das Schul- und Rechtssystem wechseln müssen.

Die Weltkriege führten zu Zwangsevakuierungen und Zwangsrekrutierungen, sodass die jungen Elsässer auf der falschen Seite gegen einen Feind kämpfen mussten, der gar nicht der ihrige war. Diese Geschichten gruben sich tief im Gedächtnis ein, doch während Jahrzehnten senkte sich Schweigen darüber.

Pierre Kretz, 1950 in Sélestat geboren, zählt zu jenen Autoren, die elsässische Schicksale ans Licht geholt haben – wie u. a. Tomi Ungerer mit seinen Jugenderinnerungen «Die Gedanken sind frei» oder Pascale Hugues mit der ungewöhnlichen Freundschaftsgeschichte zwischen der Elsässerin Marthe und der Deutschen Mathilde, ihren beiden Grossmüttern.
Im Jahr 2000 gab Kretz den Anwaltsberuf auf, um sich ganz dem Schreiben von Romanen, Essays und Theaterstücken (u. a. auch in elsässischer Mundart) zuzuwenden. Seine Kindheitserinnerungen «Ich, der kleine Katholik» (dt. 2010), mit denen sich viele Zeitgefährten auch hierzulande identifizieren können, sind ein Musterbeispiel für seine erzählerische Sensibilität und analytische Schärfe.

Auch im jüngsten Roman «Verlorene Leben» (Original: «Vies dérobées») zeichnet er vorzügliche Porträts seiner Figuren und erhellt kenntnisreich die Mentalität einer Epoche. Zudem hat er eine originelle Form gewählt: Er erzählt die Geschichte des erfolgreichen Anwalts Ernest Schmitt (einer fiktiven Romanfigur), der 1910 als Sohn einfacher Bauersleute im Sundgau geboren und später wegen seiner Begabung vom Dorfpfarrer als künftiger Priester vorgesehen wird, nicht linear und vollständig, sondern spiegelt sie bruchstückhaft in Aussagen von Personen aus dem Umkreis.

Die kurzen Kapitel, versehen mit Ort und Jahreszahl, lesen sich wie Protokolle, ohne emotionslos zu wirken. Sie räumen Ernests Eltern, dem Dorfpfarrer, dem Briefträger Platz ein, lassen später u. a. Ernests Gattin, den Chef der Anwaltskanzlei die Inhaberin einer Strassburger Kneipe oder den Oberst der SS zu Wort kommen. So schält sich aus verschiedenen Blickwinkeln eine Lebensgeschichte heraus, die trotz der äusseren Erfolge des Aufsteigers Ernest eine verlorene ist. Denn Ernest gehört zu jenen Zwangsevakuierten, die 1941 mit der Deutschen Wehrmacht an die Ostfront beordert werden, in russische Gefangenschaft geraten und abgezehrt zurückkehren, jedoch als Fremdlinge weiterleben, gepeinigt von Kriegserlebnissen, die sie niemandem mitzuteilen vermögen.

Zudem verschweigt Ernest seine Homosexualität, so dass er auch in der Ehe einsam bleibt – nicht weniger seine Gattin. Am Ende verblüfft Pierre Kretz mit einem Finale, das subtil Ernests mühsam erkämpftes Einverständnis mit seiner Biografie aufzeigt.

Auch mit seiner gebrochenen Erzählweise erzeugt Kretz eine dichte Spannung und weckt innerhalb der Stimmenpolyphonie ein starkes Gefühl für seine Figuren. Witz und Ironie fehlen nicht trotz der dunkel getönten Thematik. Allerdings führt der Autor viele Themen ein, die er wegen der fragmentarischen Erzählform nicht umfassend erörtern kann: u. a. das mit Vorurteilen belastete Verhältnis zwischen Protestanten und Katholiken vor dem II. Vatikanum, pädophile Neigungen im Konvikt der Diözese, die fehlende Aufklärung der jungen Frauen, das grassierende NS-Gedankengut. Aber sein so lebendiges Panorama schafft ein tieferes Verständnis für diese europäische Schicksalslandschaft. Bref: Lesenswert!

Beatrice Eichmann-Leutenegger

 

 




Pierre Kretz, Verlorene Leben. Roman, übersetzt von Claire Bray und Irène Kuhn. Klöpfer, Narr: Tübingen 2019, 165 Seiten, Fr. 28.90

Diese Website nutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung der Site stimmen Sie deren Verwendung zu und akzeptieren unsere Datenschutzrichtlinien.