Voneinander profitieren, statt sich zu bekämpfen: Alain de Botton. Foto: Camera Press, F. Guidicini

«Erbsünde als nützlichen Ansatz»

Religion für Atheisten!?

Zu den aktuellen Herausforderungen für die christliche Theologie gehört sicher die Auseinandersetzung mit einem neu auftretenden, teilweise sehr aggressiven Atheismus. In dieser intellektuellen Landschaft hat der in Zürich geborene und jetzt in London lebende Philosoph Alain de Botton einen interessanten und weiterführenden Beitrag geleistet.


In Alain de Bottons 2013 auf Deutsch erschienenem Buch «Religion für Atheisten» entwirft dieser ein Programm, wie eine moderne, von religiösen Autoritäten emanzipierte, freiheitliche Gesellschaft die nützlichen Aspekte von Religion für sich fruchtbar machen kann.

Von den Religionen lernen

Ausgangspunkt der Suche ist seine persönliche Faszination angesichts mittelalterlicher Kathedralen, der geistlichen Musik von Bach oder philosophischer Texte wie des Kirchenvaters Augustinus. Obwohl selbst überzeugter Atheist, sind in seinen Augen Religionen, ihr Wissen, ihre Traditionen, ihre Weisheit viel zu wertvoll für die moderne Gesellschaft, als dass man all dies mit der Abkehr vieler Menschen von der religiösen Praxis einfach verloren gehen lassen darf. Was kann eine moderne (westliche) Gesellschaft, die in den Augen de Bottons den inneren Zusammenhalt zu verlieren droht, lernen von religiösen Traditionen, die eine jahrtausendealte Erfahrung darin haben, Menschen zusammenzubringen, sie mit Ritualen, Erzählungen oder Symbolen zu einer Gemeinschaft zu formen?
Was kann eine Gesellschaft, in der fast nur noch beruflicher Erfolg und (körperlicher) Perfektionismus zählen, lernen von der Weisheit, mit der die Religionen mit den Schwächen der Menschen umgegangen sind: mit ihrer Schuld, Krankheit, Hilflosigkeit? Wie kann eine freiheitliche Gesellschaft moralische Orientierungen vermitteln: sie nicht nur fordern, sondern sie auch einüben?
Bietet sich nicht auch hier die jahrtausendealte Erfahrung von Religion an? Davon ausgehend entwirft er ein Programm, wie Schulen, Universitäten, Museen, öffentliche Räume und vieles mehr umzugestalten seien, damit sie den Nöten moderner Menschen und Gesellschaften besser entsprechen. Der Blick von de Botton auf Religion – tatsächlich nennt er praktisch nur Beispiele aus dem Judentum, dem Buddhismus und dem Katholizismus) – und den modernen Menschen ist gleichermassen faszinierend und weiterführend.
Man kann darüber streiten, ob die einzelnen Vorschläge wirklich durchführbar und zielführend seien. Mehr noch kann man darüber diskutieren, ob sich die Moderne bei den Religionen wie in einem Selbstbedienungsladen für ihre Bedürfnisse bedienen kann: Ist das Beste an Weihnachten wirklich erfahrbar ohne die Erzählung von der Geburt des Kindes? Und viele würden wohl auch seiner Wahrnehmung des modernen Menschen widersprechen. Es fällt auf, wie oft de Botton immer wieder auf die verletzliche, unvollkommene Seite des Menschen, seine emotionalen Nöte, seine Neigung zu Egoismus verweist.

Vom Atheisten lernen

Aber religiöse Gemeinschaften können aus diesem fundierten und zugleich sehr wohlmeinenden Blick von aussen viel lernen, gerade auch die katholische Kirche. Wenn de Botton die gemeinschaftsstiftenden Elemente einer katholischen Liturgie darstellt, die Art, wie über Erzählungen oder Symbole eine Ge- meinschaft entsteht, wenn er alte Gebete zitiert, was sagt uns das über die Art und Weise, wie wir Liturgie feiern? Wenn er «Erbsünde » als nützlichen Ansatz diskutiert, der die Menschen entlastet angesichts ihrer inneren Neigung zu lügen, zu betrügen oder die Nöte anderer zu ignorieren? Wenn er auf die Rituale der Versöhnung verweist, die es den Menschen überhaupt erst ermöglichen, sich der eigenen Schuld zu stellen und um Verzeihung zu bitten?
Wenn er darüber nachdenkt, wie moralische Orientierungen in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht nur einzufordern, sondern einzuüben sind: Ein Tischgebet erinnert immer wieder an die Notwendigkeit der Dankbarkeit, eine Fastenzeit an die Notwendigkeit der Umkehr, Zeiten der Stille und der Meditation an die Notwendigkeit, innezuhalten. In all dem ist das Buch de Bottons eine fundierte und weiterführende Einladung, die «Ressourcen » der eigenen Traditionen und Weisheit zu heben und weiterzuentwickeln.

Bernhard Waldmüller

 

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Weitere Informationen:
Homepage Alain de Botton 
Sternstunde Religion - Alain de Botton im Gespräch, 19. Mai 2013 
Orgie für Ungläubige - Artikel Tagesanzeiger, 31. Januar 2012
Religion-Atheisten - Artikel Zeit Online, Nr. 01/2013 

 

 

 

Alain de Botton, Religion für Atheisten.
Vom Nutzen der Religion für das Leben, Verlag S. Fischer, 320 Seiten, Fr. 34.90. Alain de Botton wurde 1969 in Zürich geboren und studierte in Cambridge. Er lebt  mit seiner Familie in London.

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