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Fein unterscheiden

Murren und das Wagnis, den gebremsten Schwung wieder in Gang zu setzen. Kolumne aus der Spitalseelsorge von Ingrid Zürcher

Ingrid Zürcher denkt nach über das Murren - inspiriert durch Erfahrungen, die sie beim Unterbrechen von Lesenden machte

Bei Lesungen aus dem Alten Testament begegnet einem oft, dass das Volk Israel, befreit aus der Sklaverei in Ägypten, unterwegs in der Wüste murrt. Die Reaktionen von Mose oder von Gott reichen von verständnisvoller Fürsorge bis ungehaltenem Zorn. Ebenso ungehalten oder einfach ratlos erlebe ich Lesende, versucht die Lektüre abzubrechen. Hilfreich, geradezu seelsorglich, kommt mir das differenzierte Hinsehen im Fundstück aus der Regel der evangelischen Kommunität von Reuilly vor:

«Was das Murren so schädlich macht in einer Gemeinschaft: es hält das Leben in Halbheiten fest, bremst den Schwung der Hingabe aus und legt auf die Geschöpfe und die Verhältnisse einen verschleierten Blick.

Zum Gespräch überzugehen bedeutet einen Anspruch, denn man wird der Unzufriedenheit Gestalt geben müssen, sie im Licht der Barmherzigkeit ausforschen, ein Wort wagen, hinnehmen, dass es unverstanden bleiben mag. Trotz dieses Wagnisses, das das eigene Herz eingeht: wenn der Gedanke dadurch gewinnt, dass man ihn bekannt macht, muss man ihn sagen. Aber wenn du in deinem Innern seine Eitelkeit wahrnimmst, so schweige und vertraue dem Herrn.»

Gemurrt ist schnell. Fein unterscheiden indes braucht Unterbrechung, Grossmut, Sorgfalt, Demut.

Ingrid Zürcher, ref. Seelsorgerin

 

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