Dr. Thomas Müller, 2016 an der pädagogischen Hochschule Zürich
(Keystone/René Ruis).

«Für eine Neigung ist man nicht verantwortlich, für eine Tat sehr wohl»

Sexualisierte Gewalt an Kindern

Papst Franziskus und die Präsidenten der verschiedenen Bischofskonferenzen aus aller Welt beraten im Vatikan, wie Minderjährige in der Kirche vor sexuellen Übergriffen geschützt werden können. Im Interview beleuchtet der österreichische Kriminalpsychologe Dr. Thomas Müller das Thema sexualisierter Gewalt an Kindern aus professioneller Perspektive. Er hat auch in der Schweiz bei der Aufklärung schwerwiegender Verbrechen mitgewirkt.

Interview: Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Wie und warum kommt es zu sexuellen Übergriffen an Kindern?

Dr. Thomas Müller: Das sind in der Regel geplante und wohl überlegte Handlungen, auch wenn es von aussen einen anderen Eindruck erwecken kann. Die Kriminalistik ist sehr lange davon ausgegangen, dass sich Sexualstraftäter ihre Opfer nach Alter, Geschlecht, Haarfarbe oder Aussehen aussuchen.
Heute sehen wir aus unzähligen Interviews in Hochsicherheitsgefängnissen: Das Auswahlkriterium ist die eigene Risikoeinschätzung, wann ich wo mit wem eine Handlung begehen kann und dabei mein eigenes Risiko minimiere. Kinder sind leichter zu kontrollieren als Erwachsene, ebenso schutzbedürftige, sehr alte, schwache oder geistig beeinträchtigte Personen.

Institutionen wie Kirche, Schule, Vereine und Spitäler scheinen sexuelle Übergriffe an Kindern zu begünstigen. Warum funktioniert gerade dort die «innere Schranke» nicht?

Zum einen, weil sich Personen mit einer ganz speziellen devianten Neigung – auch wieder wegen der Risikobeurteilung – ganz gezielt solche Institutionen als Arbeitsplatz aussuchen, und zum anderen, weil gerade diese Institutionen eigentlich einen hohen moralischen Stellenwert in der Gesellschaft haben. Schlicht, man traut Personen, die dort arbeiten, ein einschlägiges Verhalten nicht zu. Die Täter missbrauchen daher zweimal: das Opfer selbst und das Vertrauen der Gesellschaft, was eigentlich als besonders verwerflich gelten sollte.

Nun tritt bei internem Bekanntwerden solcher Fälle in der Regel ein psychologisch nachvollziehbarer, für die Institution selbstzerstörender Mechanismus ein: Die Institution muss unter allen Umständen geschützt werden. «Der Verlust von wenigen ist die Rettung vieler» – es scheint, man opfere lieber das Opfer nochmals, als durch das Verhalten des Täters schädigende Auswirkungen auf die Institution zu riskieren. Dieser Mechanismus ist der Mantel des kollektiven Schweigens.

Dieser wird dann wieder von potenziellen Tätern ausgenützt, um sich neue Opfer zu suchen. Stellen Sie sich vor – der Vergleich ist mit Vorsicht zu geniessen: Diebstahl wird in einem bestimmten Geschäft kaum geahndet, auch wenn man dabei ertappt wird. Wo, glauben Sie, wird in Folge mehr gestohlen: in diesem oder einem anderen Geschäft?

Gibt es typische Profile und Handlungsmuster pädophiler Täter?

Es gibt kein typisches Profil, jede Tat ist einzigartig und widerspiegelt ein ganz individuelles Bedürfnis des Täters. Die Tat selbst, der Planungsgrad, die Durchführung, das verbale, physische und sexuelle Verhalten und die Kombination aus allen drei Verhaltensbereichen zeigt das Ausmass der Wut, des Hasses, des Kontroll- und Machtbedürfnisses des Täters.

Die Kriminalpsychologie analysiert die Tatbegehung und das Verhalten, um dann auf das Bedürfnis, und damit auch auf die Gefährlichkeit des Täters schliessen zu können. Allerdings muss auch mit aller Deutlichkeit festgehalten werden: Es gibt unzählige pädophil veranlagte Personen, die nie ein Kind schänden oder sexuell missbrauchen würden, und es gibt genügend Kinderschänder, die keine pädophile Neigung haben. Letztere handeln nach der Maxime: «Erlaubt ist, was gefällt – ein Kind steht zur Verfügung, ich habe Macht darüber, mein Risiko ist gering, ich hole mir, was mir zusteht.»

Gebete und Andachten helfen in diesem Falle sehr wenig. Sie stellen eigentlich den dritten Missbrauch innerhalb einer einzigen Straftat dar; zuerst das Kind, dann das Vertrauen der Gesellschaft und zum Schluss den moralischen Schutz des Vertrauens.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Pflichtzölibat katholischer Priester und sexueller Gewalt an Kindern innerhalb der Institution Kirche?

Nein, denn nicht jeder, der asexuell leben sollte, missbraucht automatisch ein Kind. Eines ist aber auch klar: Den Sexualtrieb können Sie nicht einfach ausschalten, weil Sie dazu durch Verordnung angehalten werden. Es benötigt eine sehr starke Disziplin und auch den inneren Willen, die enormen Kräfte der Sexualität in einen anderen – eben den behütenden, pflegenden, schützenden, tröstenden, sozialen oder auch fürsorglichen – Bereich zu verschieben.

Diener Gottes zu sein, bedeutet, sich selbst für andere zurückzustellen, auch in der Sexualität. Aber wer prüft das, wenn jemand an die Pforte klopft und sagt: Ich möchte Priester sein. Nachvollziehbare und unabhängige Kontrollen darüber, wer in das Haus Gottes als Diener eintreten möchte, dürfen keinesfalls heruntergefahren werden, weil es zu wenig Bewerber gibt, denn das wäre ja gleichzusetzen mit einer Fluggesellschaft, die auch Taube, Blinde und hoch risikoreiche Persönlichkeiten zu Piloten ausbildet, weil es ein fach zu wenig gute Bewerber gibt. Wer – in Gottes Namen – würde noch in dieses Flugzeug steigen?

Sind pädophile Täter therapierbar?

Für eine Neigung ist ein Mensch nicht zur Verantwortung zu ziehen, für eine Tat sehr wohl. Einmal mehr: Es gibt genügend pädophil veranlagte Menschen, die sich mit ihrer Fantasie zufriedengeben. Allerdings gehen wir vom heutigen Stand der kriminalpsychologischen Wissenschaft davon aus, dass Täter, die ausschliesslich sexuelle Handlungen mit Kindern durchführen (Preferrential Pedophiles), sowie sexuelle Sadisten als nicht therapierbar gelten.

Was können potenzielle Täter, Institutionen und die Gesellschaft präventiv tun?

Worauf wollen Sie in einer aufgeklärten Gesellschaft eher verzichten bzw. was ist Ihnen mehr wert: dass kein weiteres Kind missbraucht, sexuell, körperlich und/oder seelisch geschändet wird und sein gesamtes Leben damit zu kämpfen hat, oder dass Sie der humanen, aufgeklärten und sehr menschenrechtskonform ausgelegten Annahme Folge leisten, jeder Mensch könne sich ändern, und dass eine Gesellschaft nicht das Recht hat, einen Einzelnen so zur Rechenschaft zu ziehen, dass er nie mehr eine gleiche oder ähnliche Straftat begehen kann? Beantworten Sie mir diese Frage, und ich beantworte die Ihre. Jede Gesellschaft hat die Straftaten, die Gesetze und die Kultur, die sie verdient.

 

Zur Person
Hon. Prof. Mag. Dr. Thomas Müller, 54, ist Mitarbeiter am Institut für Wissenschaft und Forschung in der Sicherheitsakademie des österreichischen Bundesinnenministeriums sowie selbstständig als gerichtlich beeidigter und zertifizierter Sachverständiger im Fachgebiet Kriminalpsychologie tätig. Von 1993 bis 2005 hat er den Kriminalpsychologischen Dienst des Bundesministeriums für Inneres in Wien geleitet.

 

Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld

Gemäss Angaben der Schweizerischen Bischofskonferenz (SBK) sind von 2010 bis 2017 jährlich 9 bis 115 Meldungen sexueller Übergriffe im kirchlichen Umfeld eingegangen. Der Zeitpunkt der gemeldeten Übergriffe liegt grösstenteils vor 1961 oder zwischen 1961 und 1980.

Für die Jahre 2015 bis 2017 sind je acht, sieben und fünf Fälle verzeichnet. Je 83 der gemeldeten Opfer sind Kinder bis 12 Jahre oder zwölf- bis 16-jährige Knaben und 28 zwölf- bis 16-jährige Mädchen. 98 der gemeldeten Übergriffe wurden an Erwachsenen verübt.

Zu 19 Opfern sind die Angaben unvollständig oder unbekannt. Die meisten Täter sind männlich. Verzeichnet sind 141 Übergriffe von Priestern und 93 von Ordensmännern, Diakonen und Laientheologen. In 26 Fällen waren Ordensfrauen oder Laientheologinnen übergriffig.

Die Art der Übergriffe reicht von sexuell gefärbten Äusserungen oder Gesten und unerwünschten Avancen (86) über sexuelle Handlungen (53) und sexuelle Nötigung (55) bis hin zu Beischlaf im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses (15), Vergewaltigung (10) und Schändung (13).

Massnahmen der SBK
• Diözesane Ansprechstellen für Opfer, für den Kanton Bern: www.bistum-basel.ch (Rubriken Services, Beratung)
• Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz für das Vorgehen nach und die Prävention von sexuellen Übergriffen in der Seelsorge
• Seit 2016: Genugtuungsfonds für Opfer verjährter sexueller Übergriffe im kirchlichen Umfeld ah Weitere Informationen www.bischoefe.ch/fachgremien/sexuelle-uebergriffe

 

 

 

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