Papst Paul VI. (r.) im Gespräch mit Erzbischof Avelar Brandao Vilela, 1968 Präsident des Lateinamerikanischen Bischofsrates. Foto: KNA

Geburt der Befreiungstheologie in Medellin

Vor 50 Jahren entschieden sich die Bischöfe Lateinamerikas für die «Option der Armen». Später erwuchs daraus die Befreiungstheologie. Josef Lang mit den Hintergründen.

Im September 1968 legte sich die II. Lateinamerikanische Bischofskonferenz im kolumbianischen Medellin auf die «vorrangige Option für die Armen» fest, daraus erwuchs die Befreiungstheologie. Deren Vertreter*innen geben den Armen nicht nur zu essen, sie fragen auch, wieso sie Hunger haben.


Vor genau 50 Jahren kam die Befreiungstheologie auf die Welt. Am 6. September 1968 beschloss die II. Lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellin die «vorrangige Option für die Armen». Den Namen bekam sie drei Jahre später durch das Buch «Teología de la liberación» des peruanischen Dominikanerpaters Gustavo Gutiérrez. Das offizielle Dokument von Medellin trug den Titel «Die Kirche in der aktuellen Veränderung Lateinamerikas im Lichte des Konzils».

Der Verweis auf das Zweite Vatikanum hatte eine doppelte Bedeutung. Erstens wurde eine Idee konkretisiert, die bereits über dem Konzil geschwebt hatte. An diesem war zwar der Slogan «Kirche der Armen» nicht durchgekommen, dafür Sätze wie: «Wer aber sich in äusserster Notlage befindet, hat das Recht, vom Reichtum anderer das Benötigte an sich zu bringen.» (Pastoralkonstitution «Freude und Hoffnung», 69) Zweitens demonstrierte «Medellin» erstmals in der Geschichte kirchliche Autonomie.

Die Bischöfe Lateinamerikas interpretierten ihre Aufgaben selbstständig. Clodovis Boff, der Bruder von Leonardo, sagte, deren Hauptverdienst sei es, in Lateinamerika eine Kirche geschaffen zu haben, die «lateinamerikanisch» sei. Der Konzilstheologe Karl Rahner stimmte dem bei mit der Aussage, das Konzil habe die Kirche «enteuropäisiert» und erstmals «katholisch», also weltumfassend, gemacht.

«Ungerechtigkeit ist Sünde»

Die Erklärung von Medellin beinhaltete auf einem politisch aufgewühlten Kontinent höchst gefährlichen Zündstoff. Schon im ersten Kapitel, das nicht dogmatischen oder sittlichen oder spirituellen Fragen, sondern der sozialen «Gerechtigkeit» gewidmet ist, steht: «Dieses Elend ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit.» Im zweiten Kapitel «Frieden» wird die wichtigste Gewaltursache beim Namen genannt: «Es ist nicht zu übersehen, dass sich Lateinamerika in vielen Gebieten in einer Situation der Ungerechtigkeit befindet, die man institutionalisierte Gewalt nennen kann.»

Solche «Realitäten» drückten «einen Zustand der Sünde» aus. Die «Unzulänglichkeit der Strukturen» habe zur Folge, dass «fundamentale Rechte verletzt» würden. Die «Hauptschuldigen der wirtschaftlichen Abhängigkeit unserer Länder» seien «jene Kräfte, die angetrieben von einem hemmungslosen Gewinnstreben zu einer wirtschaftlichen Diktatur führen». Aus ihrer Analyse zog die Bischofskonferenz folgende Schlüsse: «Dies muss sich in der Anklage der Ungerechtigkeit und Unterdrückung konkretisieren, im christlichen Kampf gegen die unerträgliche Situation, die der Arme häufig erleiden muss, in der Bereitschaft zum Dialog mit den für diese Lage verantwortlichen Gruppen, um ihnen ihre Pflichten begreiflich zu machen.»

Im 14. Kapitel «Armut der Kirche» nahmen sich die Amtsträger Folgendes vor: «Wir verzichten auf Ehrentitel und wollen, dass unsere lateinamerikanische Kirche frei sei von weltlichen Verquickungen, Annehmlichkeiten und zweideutigem Prestige.» Die Bischofskonferenz von Medellin stand unter dem doppelten Einfluss der ein Jahr zuvor veröffentlichten Enzyklika «Populorum progressio» und des zwei Jahr zuvor erschossenen Guerilla-Priesters Camilo Torres.

Papst Paul VI., der sozialpolitisch aufgeschlossener war als frauenpolitisch, hatte im März 1967 den «finanzkapitalistischen Imperialismus» gegeisselt. So kritisierte er den «ungehemmten Liberalismus», für den «der Profit der eigentliche Motor des ökonomischen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne entsprechende Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber darstellt.» (Über die Entwicklung der Völker, 26).

«Interessen der USA in Gefahr»

Allerdings richtete sich das päpstliche Dokument «an erster Stelle» an «die Begüterten». Gutiérrez kritisierte damals den Papst, sich nicht «in direkterer Weise an die Unterdrückten gewendet» zu haben, «damit sie die Zügel ihres Geschicks selber in die Hand nehmen». Paul VI. beherzigte diesen Einwand am 23. August 1968, einen Tag vor seiner offiziellen Eröffnungsrede vor den Bischöfen. Den leidgeprüften Landarbeitern im kolumbianischen Mosquera rief er zu: «Ihr könnt nicht dulden, dass diese Bedingungen andauern, ohne dass ihr ihnen wirksame Abhilfe entgegensetzt.»

Die III. Lateinamerikanische Bischofskonferenz im mexikanischen Puebla vom Februar 1979 bestätigte den Aufruf zur Selbstorganisation der Armen: «Die Armen, die ihrerseits von der Kirche ermutigt wurden, haben begonnen, sich zu organisieren, um (…) ihre Rechte zu fordern.» (Ziffer 1137). Die aktive Mithilfe beim Aufbau sozialer Bewegungen dürfte die Verteidiger des «finanzkapitalistischen Imperialismus» besonders alarmiert haben. Der kurz nach der II. Bischofskonferenz im Auftrag von Präsident Nixon erstellte Rockefeller-Bericht stellte fest: «Wenn die lateinamerikanische Kirche die Vereinbarung von Medellin verwirklicht, sind die Interessen der USA in Gefahr.»

Die folgenden «Schmutzigen Kriege», die in den 1970er Jahren allein in Argentinien 30 000 Menschen, unter ihnen etwa 1000 Priester, Nonnen und Katechet*innen das Leben kostete, richteten sich nicht zuletzt gegen die Befreiungstheologie. Leider fanden die USA und die lateinamerikanischen Militärs eine allzu starke Unterstützung in den kirchlichen Hierarchien, insbesondere in Buenos Aires und in Rom. Camilo Torres, der Guerilla-Priester Am 15. Februar 1966 wurde Camilo Torres, der sich nach Jahren zivilen Engagements der Guerilla angeschlossen hatte, in seinem ersten Kampfeinsatz von Regierungstruppen erschossen.

Torres war 1929 in einer der reichsten Familien Kolumbiens auf die Welt gekommen. Nach seiner Priesterweihe 1954 schickte ihn Kardinal Crisanto Luque von Bogotà an die katholische Universität Löwen, um dort Soziologie zu studieren. Nach seiner Rückkehr 1959 begann er die Armut als Hauptproblem zu sehen. Er setzte sich für eine Zusammenarbeit zwischen Christen und Marxisten ein. Dabei richtete er an beide Seiten die kritische Frage: «Warum sollen wir streiten, ob die Seele sterblich oder unsterblich sei, wenn wir beide wissen, dass Hunger tödlich ist?»

Die Kirchenvertreter forderte er heraus, das Schicksal der Armen ernster zu nehmen. Und die Linke wollte er dazu bringen, ihren atheistischen Dogmatismus zu hinterfragen. Als Studentenseelsorger erlebte Torres die staatliche Repression gegen Andersdenkende und die Komplizenschaft der Kirchenhierarchie mit den Unterdrückern. Wegen seiner politischen Arbeit wurde er vom zuständigen Erzbischof Luis Concha in seinen priesterlichen Funktionen suspendiert. Danach bereiste er monatelang das Land, um die zersplitterte Linke zu einer «Einheitsfront» zu vereinigen.

Aufgrund seiner sozialen Beobachtungen und politischen Erfahrungen beschloss er im Oktober 1965, sich gemeinsam mit einer Studentengruppe dem «Ejército de Liberación Nacional» (Nationales Befreiungsheer) anzuschliessen. Das Vorbild der ELN, in der auffällige viele Geistliche mitmachten, war Che Guevara. Nach seinem Tod wurde Torres ein christliches Begräbnis verweigert und seine Leiche verscharrt. Im Rahmen der Friedensverhandlungen wurde er 2016 vom Erzbischof Dario Monsalve in Cali rehabilitiert. Der kürzlich zurückgetretene Präsident Juan Manuel Santos ordnete die Suche nach den sterblichen Überresten an.

Camilo Torres wurde zu einem Symbol für Linkskatholik*innen in Lateinamerika sowie in den USA und in Europa. Im belgischen Löwen wurde ein Studentenheim auf seinen Namen getauft. Meinen Onkel Joseph Nietlispach, der mit Camilo in Löwen studiert hatte, veranlasste das Schicksal seines ehemaligen Kommilitonen, die Befreiungstheologie genauer zu studieren. Das half ihm, die politische Hinwendung seines Neffen zum Marxismus besser zu verstehen. Und diesem halfen Camilo Torres und die Befreiungstheologie, zwischen Katholizismus und Sozialismus eine Brücke zu bauen.

Papst Franziskus und die Befreiungstheologie

Fünfzig Jahre nach Medellin entfaltet die Befreiungstheologie weiterhin ihre Wirkung. Das mächtigste Beispiel liefert ausgerechnet einer ihrer härtesten Gegner in den 1970er und 1980er Jahren: der damalige Jesuitenpater Jorge Mario Bergoglio. Die beste Biographie über ihn trägt den Titel: «Papst Franziskus. Vom Reaktionär zum Revolutionär» (Paul Vallely, Darmstadt 2014).

In seinem Apostolischen Schreiben «Evangelii Gaudium» vom November 2013 steht folgende Aussage: «Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschliessung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draussen. Die Ausgeschlossenen sind nicht ‹Ausgebeutete›, sondern Müll, ‹Abfall›.» Die heutigen Herausforderungen sind – abgesehen von der Klimaerwärmung, der Franziskus die ebenso kritische Umweltenzyklika «Laudato si’» gewidmet hat – noch dramatischer, als sie vor 50 Jahren gewesen sind.

Josef Lang, Historiker und alt Nationalrat

 

 

Die II. Generalkonferenz des Rates der Lateinamerikanischen Bischofskonferenzen (CELAM) fand vom 24. August bis zum 6. September 1968 im kolumbianischen Medellin statt. Papst Paul VI. eröffnet die Versammlung in der Kathedrale von Bogotá. Das Treffen ist für die Geschichte der Kirche Lateinamerikas und der Karibik von grundlegender Bedeutung, vergleichbar mit dem II. Vatikanischen Konzil.
Andreas Krummenacher

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