Im Café liesse sich so manch ein Buch schreiben. Foto: Kunstart.net, pixelio.de

Geschichte(n) schreiben

Auf den Blickwinkel kommt es an. Beobachtungen von Gabriele Berz

Ganz selten nehme ich mir die Zeit, mich in ein Café zu setzen. Mit offenen Augen und Ohren bestaune ich das Kommen und Gehen und wünsche mir, ich hätte das Zeug dazu, einen richtigen Roman zu schreiben. In so einem Café kommen unendlich viele Geschichten zusammen: die beiden Künstlerinnen in der Ecke, die lebhaft ihr nächstes Projekt diskutieren. Der Papi, der seinem Sohn mit der einen Hand die Milchflasche hält und mit der anderen in der Zeitung blättert. Die Studentinnen, die hinter ihren aufgeklappten Laptops für die Prüfung lernen. Der elegante Businessmann, der mit dem ersten Blick bestellt, beim zweiten die Tasse leert und beim dritten schon wieder davonhastet. Die drei alten Damen, die aufgereiht an der Wand sitzen und die anderen Gäste beobachten. Wie viele Jahre haben sie wohl jeden Rappen in der Hand umgedreht, bis sie sich den Luxus leisten konnten, auswärts in einem Café zu sitzen – mitten am Tag. So viele Menschen, so viele Geschichten …

Jedes Mal denke ich dann, wie gerne wäre ich eine Romanschreiberin, die aus diesen vielen Geschichten ein dickes Buch schreiben könnte. Eines, in dem diese Lebensfäden zusammenlaufen, sich verknoten, verwirren, abreissen, sich unverhofft verknüpfen. Ich bin sicher, das gäbe ein wunderbares, buntes, spannendes Buch. Aber ich weiss auch, dass das nicht geht. Weil meine Worte nie stark genug wären, all diese Geschichten und das verrückte, schöne, traurige, verzweifelte, geglückte Leben in ihnen einzufangen. Weil das Leben an sich einfach immer die besseren Geschichten schreibt, als ich das je könnte.

Beim Blick durch das Café begegnet mein Blick meinem Spiegelbild. Es sieht nachdenklich aus und ein wenig verloren. Da kommt mir schmunzelnd in den Sinn, was ich fast vergessen hätte: Es lohnt sich nicht, traurig zu sein, dass diese vielen Geschichten mich nicht zu einer Romanschreiberin machen. Schliesslich bin ich ja schon die Titelheldin im Buch meines Lebens, das Gott schon lange geschrieben hat. Immerhin.

 

 

Gabriele Berz-Albert
… ist Gemeindeleiterin in Spiez. Sie mag wertschätzende, achtsame Menschen. Geduldig spürt sie im Alltag Licht- und Gottesmomente auf.
Illustration: schlorian

 

 

«Wir nehmen uns die Zeit» im Überblick

 

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