Bischof Felix Gmür über die Kirche vor, während und nach der Corona-Krise. Foto: Pia Neuenschwander.

«Gesundheit schützen ist ein Gebot der Nächstenliebe»

Interview mit Bischof Felix Gmür über Corona, krisensichere Pfarreiseelsorgende und mögliche Konsequenzen

Bischof Felix Gmür, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz und oberster Hirte des Bistums Basel, nimmt Stellung zu aktuellen Themen der Kirche.

Interview: Anouk Hiedl («pfarrblatt» Bern) und Christian Breitschmid (Horizonte Aargau)

Welche Lehren ziehen Sie für unser Bistum und die Kirche aus der Coronakrise?

Ich bin zurückhaltend mit Erklärungen, bevor die Krise vorbei ist. Wir stecken immer noch mittendrin. Aber ich habe gemerkt, dass die Kirche auch in Notzeiten von vielen Gläubigen gefragt ist als Hilfeleisterin, als spirituelle Begleiterin, als Seelsorgerin – als jemand, an den man sich wenden kann. Und ich habe mit Freude festgestellt, dass viele Seelsorgende krisensicher, flexibel und schnell reagiert haben. Die Freuden und Hoffnungen der Menschen sind auch jene der Kirche. Wir orientieren uns an der realen Situation. Die Welt diktiert also in gewisser Weise die Aktivitäten der Kirche. Ich habe auch festgestellt, dass der Blick auf die Kirche oft nur auf Gottesdienste fokussiert ist. Aber die Kirche hat mehrere Standbeine. Eines davon nennen wir «Diakonie», das bedeutet, sich um jene zu kümmern, die durch die Maschen zu fallen drohen. Da möchte ich daran erinnern, dass die Kirche der Stadt Bern in kürzester Zeit eine Million Franken für Soforthilfe gesprochen hat.

Bei den Lockerungsmassnahmen wurde die Kirche vorerst übergangen. Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Gottesdienste waren politisch nicht auf dem Radar, weil sie als Versammlung eingestuft werden. Die Bundesverfassung gewährleistet die Religions- und Kultusfreiheit, die nur temporär aufgehoben werden darf. Für viele Gläubige sind Religion und Gottesdienst mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Gottesdienste sind ein existentielles Bedürfnis. Deshalb hat die Bischofskonferenz dem Bundesrat Ende April als erste Religionsgemeinschaft ein Schutzkonzept eingereicht. Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass Gottesdienste nicht Happenings sind, sondern Nahrung, die die Leute zum Leben brauchen. Unser Schutzkonzept ist so angelegt, dass das Ansteckungsrisiko möglichst klein gehalten wird. Die Gesundheit zu schützen hat oberste Priorität und ist ein Gebot der Nächstenliebe. Dass die Religionsgemeinschaften während der Pandemie politisch lange keine Rolle spielten, ist Ausdruck dafür, dass wir in einer säkularen Welt leben. In der öffentlichen Wahrnehmung ist Religion eine Privatsache. Das ist sie aber gerade nicht. Sie ist eine öffentliche Angelegenheit.

Während die Kirche Diskurse zwischen Progressiven und Konservativen führt, überholt das Zeitgeschehen sie links und rechts. Was muss geschehen, damit konstruktive Stimmen endlich gehört werden?

Polarisierende Stimmen gibt es immer, vor allem wenn es darum geht, neue Aspekte in den Vordergrund zu rücken. In der Schweiz wird die katholische Kirche mit über einem Drittel Migrantinnen und Migranten immer internationaler. Unsere Strukturen haben noch nicht den richtigen Modus gefunden, um mit dieser Tatsache umzugehen. Die Kirche wird so auch in den Glaubensvollzügen, in der Art Frömmigkeit zu leben und Fragen zu stellen, vielfältiger. In der Pandemiesituation merkt man, dass wir eine globalisierte Gemeinschaft sind. Der katholische Glaube ist inhaltlich überall derselbe, aber wie wir ihn leben und welche persönlichen Konsequenzen wir daraus ziehen, ist kulturell sehr unterschiedlich. Das kommt bei uns alles zusammen. In dieser Zeit gibt es manche, die wollen, dass alles wieder so wird wie früher, und andere möchten, dass alles ganz anders wird. Beides polarisiert. Zum Beispiel in der Frage nach Stellung und Aufgabe von Priestern, Pfarreiseelsorgenden und Frauen in der Kirche. Ich bin überzeugt, dass besonnene Stimmen, die versuchen, das Ganze zusammenzuhalten, gehört werden.

Etwa die von Benediktinerpater Martin Werlen?

Das ist eine dieser Stimmen, bei denen es gut ist, wenn man sie hört. Einzelne Personen oder Gruppen haben gute Ideen und geben Hinweise, die wichtig, vielleicht sogar entscheidend sind. Daneben gibt es immer auch andere. Das ist ja auch das Schöne am Katholisch-Sein, dass es immer noch eine andere Sicht gibt. Erst das Zusammen-Sehen vieler unterschiedlicher Positionen ergibt die richtige Mischung.

Es wird viel diskutiert und erörtert. Daraus müssten doch Ergebnisse resultieren. Dennoch hat man das Gefühl, es passiere nichts.

Es passiert viel, aber es passiert in kleinen Schritten. Und: An gewissen Orten gibt es Stillstand. Anpassungen oder Veränderungen gehen nur langsam vor sich. Oder wir nehmen sie nicht wahr, weil es Verhandlungen gibt, die zäh sind. Ich sehe das bei der Errichtung der Pastoralräume. Daran arbeiten wir nun schon seit 20 Jahren. Es ist eine Stärke unserer Kirche, dass sie möglichst viele Leute mitnehmen und niemanden abhängen will. «Sie sollen eins sein», sagt Jesus im Johannesevangelium. Das ist anspruchsvoll und darum auch langwierig.

Wie wollen Sie erreichen, dass kirchliche Berufe, auch das Priesteramt, wieder attraktiver werden?

Für Papst Franziskus ist die entscheidende Grösse der katholischen Kirche das Volk – eine pilgernde, wandernde Gesellschaft. Darin befindet sich auch unser Personal. Es ist nicht weniger, aber anders, mit vielfältigeren Werdegängen. Bei der Frage, wen man für einen Dienst in der Kirche motivieren kann, lassen sich zwei Geschwindigkeiten ausmachen: einerseits die jahrhundertealten kirchlichen Strukturen, andererseits die Erwartungen an die Kirche. In der Corona-Krise hat sich die Erwartung gezeigt, dass Seelsorgende präsent und mit uns sind, dass sie zuhören, ernst nehmen und glaubwürdig etwas von ihrem Glauben weitergeben können. Die aktuelle Umbruchphase macht es noch schwieriger, die beiden Geschwindigkeiten zusammenzubringen. Beim Personal nehmen die Priester ab und die nicht geweihten Theolog*innen zu. Strukturell tut die Kirche so, als hätte sich nichts verändert. Doch das Volk Gottes lebt nicht mehr nur als Leistungsempfängerin, es kann Vieles selber machen.

Nach wie vor haben Pfarreiseelsorgende nicht dieselben Kompetenzen wie geweihte Priester. Da stellt sich angesichts des Priestermangels ein Problem…

Ich fände es gut, wenn es Diakoninnen gäbe. Wenn man möglichst viele Gläubige auf diesen Weg mitnehmen will, braucht es Geduld. Für gewisse Leute wird diese Geduld jetzt schon überstrapaziert.

Sie befürworten das Diakonat der Frau und können sich auch das Priestertum der Frau vorstellen. Machen Sie sich in der Bischofskonferenz und in Rom dafür stark?

Ich habe mich schon an vielen Orten dafür stark gemacht, dass zumindest darüber diskutiert wird. Aber ich bin einer von über 4000 Bischöfen, und die Schweiz ist, was die Anzahl Katholik*innen betrifft, nicht gross. Wir können aber doch die eine oder andere Idee einbringen, denn wir haben eine lange Tradition und im Laufe der Jahrhunderte schon in vielen verschiedenen gesellschaftlichen Modellen gelebt. Nehmen Sie zum Beispiel die Verteilung von Verantwortung und Macht. Typisch ist das Personalwesen: Hier werden Macht und Verantwortung geteilt. Das ist etwas Entscheidendes, das wir einbringen können.

 

 

 

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