Wir springen in die Bresche, wo es klemmt. Das ist Kirche.

Grenzerfahrungen im Flüchtlingszentrum

Der Besuch bei einem reformierten Seelsorger, der in einem Empfangszentrum für Flüchtlinge in Basel arbeitet. Ein Augenzeugenbericht.

Das Empfangs- und Verfahrenszentrum Basel (EVZ) ist jene Anlaufstelle für Flüchtlinge, die aus dem Norden in die Schweiz kommen. Seit fast neun Jahren arbeitet der reformierte Seelsorger Roland Luzi im Team des Oekumenischen Seelsorgedienstes für Asylsuchende (OeSA). Ein Besuch.

Ein Güterzug donnert über die Bahntrasse, gleich darauf ein Personenzug aus der Gegenrichtung. Es riecht etwas nach Fäkalien, wie es nur gelingen kann, wenn eine nahegelegene Kläranlage in Betrieb ist. Das EVZ Basel liegt zwischen Zoll und Ausschaffungsgefängnis an der Grenze zu Deutschland. Falls Flüchtlinge ankommen, die Bilder von schneebemützten Bergen und glitzernd-blauer Seeromantik aus der Schweiz kennen, müssen sie feststellen: Hier im EVZ Basel ist man am Allerwertesten des Landes gestrandet.
Von der Bushaltestelle Otterbach her schieben zwei Mütter ihre Kinderwagen zielsicher auf das Häuschen zu, das als Kontrollpunkt des Flüchtlingszentrums dient. Für 600 Personen ist das Zentrum ausgelegt, doch im Moment nur halb besetzt. «Das ist glücklicherweise so», erklärt Seelsorger Roland Luzi: «Wenn wir voll belegt sind, wird’s wirklich eng.» Die ORS Service AG managt die erste Anlaufstelle für Menschen auf der Flucht in Basel. Ein Schild klärt auf: Alkohol und Betrunkene verboten! Eine strenge Hausordnung organisiert den Tagesablauf der Gäste von 6.30 Uhr bis 23.15 Uhr. Es dürfen weder Zimmer noch Betten getauscht werden. Lebensmittel und das Aufhängen von Kleintextilien an Fenster oder Heizung sind untersagt. Es herrscht ein Ambiente wie auf Krankenhausfluren. Einzig der Raum für die Kinderbetreuung strahlt Lebendigkeit und Wärme aus.
Roland Luzi öffnet eine weitere Tür: «Hier empfangen wir Menschen in Not. Die ORS organisiert den Tagesablauf. Wir sehen den ganzen Menschen mit all seinen Bedürfnissen. » Im Zimmer der OeSA werden monatlich an die 200 Menschen beraten – es kommt auch nicht als Wohnstube daher. Aber es gibt eine bunte Tischdecke und in den Regalen stehen Bücher unterschiedlicher Religionen. «Wir springen in die Bresche, wo es klemmt. Das ist Kirche: Bieten, was fehlt!» sagt der Seelsorger leidenschaftlich. Es gibt Kinderbetreuung und Kleiderabgabe, Beratungen und Übersetzungen und die Lernstube «First Step» mit Sprach- und Stützunterricht. Nicht zu vergessen das wöchentliche Musizieren von hiesigen Profis mit Flüchtlingen, bei dem auch Luzi selber zur Gitarre greift.
Vor der Flüchtlingsarbeit war Roland Luzi als Diakon und Erwachsenenbildner tätig – hier praktiziert er «aufsuchende Seelsorge» und geht auf die Asylsuchenden zu. «Die meisten sind zu schüchtern, um zu uns zu kommen», stellt er fest. Das erfordere von ihm selber viel Mut und Energie, gibt er zu. Manchmal sei er auch auf einen Dolmetscher angewiesen. Zuhören, trösten, zur Andacht einladen, entscheiden, ob eine Rechtsberatung angebracht ist – der Bogen der Betreuung ist weit gespannt. Religiöse Unterschiede verschwimmen, es geht um Überleben, Bürokratie, Seelenschmerz. Seit Neuestem hätten sie dank Spenden eine angestellte Krankenschwester, erzählt Roland Luzi dankbar. Dramatische Schicksale und Alltagsprobleme wechseln sich ab. «Ich vermisse meine Frau, ich habe sie in Somalia verloren ...», trat ein Eritreer kürzlich an ihn heran. Er sei seit sieben Jahren auf der Flucht, und habe jetzt den Ablehnungsbescheid bekommen. «Durch meine Erfahrung kann ich schnell einschätzen, ob sich eine Rechtsberatung lohnt oder ob ich jemanden eher auf die Rückkehr in die ungeliebte Heimat vorbereiten soll», erklärt der Seelsorger. Neulich erzählte ein 16-Jähriger aus Afghanistan dem Seelsorger, die Taliban hätten seinen Vater ermordet. Seine Mutter lebe mit zwei behinderten Geschwistern in der Heimat. Sie habe ein Stück Land verkauft, um ihn mit Handy und Geld für den Schlepper zu versorgen. Es gäbe viele «Umas» (Unbegleitete minderjährige Asylsuchende) im EVZ Basel, deshalb habe das Staatssekretariat für Migration das Otterbachgut nebenan gemietet, wo die Kinder in einem eigenen Zentrum geschützt sind und auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird. Ein Steinwurf entfernt liegt ein kleines Containerdorf, in dem sich Kleiderabgabe und Café-Treffpunkt der Oekumenischen Anlaufstelle befinden. An die hundert Asylsuchende kommen jeden Tag vorbei, um Kaffee zu trinken, sich auszutauschen und Beratung zu finden. Ein Besucher hat die OeSA mal Oase genannt und war stolz auf den kreativen Buchstabenverdreher. Die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort sind sicherlich stolz darauf, eine Oase für Menschen zu bieten, die oft nichts mehr haben ausser ihrem Leben.

Text und Fotos: Christina Burghagen

Diese Website nutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung der Site stimmen Sie deren Verwendung zu und akzeptieren unsere Datenschutzrichtlinien.