Für Annemarie Schobinger ist die französische Mystikerin Madeleine Delbrêl eine moderne Heilige. Bild: zVg

«Heilig-Sein ist die Berufung aller Getauften»

Im Buch «Heilig» definiert die Evangelisch/Römisch-katholische Gesprächskommission diesen Begriff neu.

Im Buch «Heilig» definiert die Evangelisch/Römisch-katholische Gesprächskommission* diesen Begriff neu. Weshalb, erklärt ein Mitglied der Kommission.

Autor: Detlef Kissner

«pfarrblatt»: Wie würden Sie «heilig» beschreiben?

Annemarie Schobinger: Wir mussten diesen Begriff im ökumenischen Dialog klären. Die Katholik*innen haben Abstand genommen von einer Heiligenverehrung, die manchmal ins Magische abgerückt war. Die Reformierten haben sich distanziert von der radikalen Ablehnung der Heiligenverehrung. So haben wir uns gefunden. Nach christlichem Glauben ist Heilig-Sein im Taufsakrament begründet.

Können Sie das erläutern?

Ein/e Heilige/r ist ein Mensch, die/der völlig von Christus durchdrungen ist, der durchsichtig ist auf Christus hin. Heiligsein ist die normale Berufung getaufter Christ*innen und nicht die Ausnahme. Deshalb sind nicht nur die Menschen heilig, die Aussergewöhnliches vollbringen. Das feiern wir an Allerheiligen.

Gab es bei diesem Thema keine konfessionellen Unterschiede?

Wir sind uns nicht einig über die Funktion verstorbener Heiliger. Für die reformierte Kirche ist es undenkbar, dass man Heilige um Hilfe anruft. Damit würde man ausdrücken, dass das Erlösungswerk Christi nicht genügt. Ich habe versucht aufzuzeigen, dass das im katholischen Verständnis nicht so gemeint ist, sondern dass es im Sinn der Gemeinschaft der Heiligen, zu der wir Lebenden auch gehören, eine Art «Familienangelegenheit» ist. In dem Sinne: «Du bist am Ziel, bei Gott. Kannst du mir da weiterhelfen?»

Verstehen Reformierte das?

Martin Hirzel, Pfarrer der reformierten Landeskirche Bern-Jura-Solothurn, erzählte mir, dass der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist, der seinen Vater früh durch einen Unfall verloren hat, eine starke Beziehung zu seinem verstorbenen Vater entwickelt habe. Für ihn sei der Vater wie eine Brücke geworden zu Gott. Als Kind habe er sich gesagt, dass der liebe Gott nicht immer Zeit habe, aber der Vater habe Zeit und so könne er diesen um Rat fragen. Hirzel sagte zu mir: «Als ich das las, ging mir ein wenig auf, was für euch Katholikinnen und Katholiken die Fürsprache der Heiligen bedeutet».

Wie wurden die sechs Personen ausgewählt?

Die sechs Mitglieder der Kommission haben frei je eine Person gewählt, in deren Lebensform sich etwas findet, was wir als heilig bezeichnen. Dadurch kommen Menschen aus ganz verschiedenen Bereichen zur Sprache: Etty Hillesum war Jüdin, stand aber dem Christentum nahe. Jochen Klepper war ein Lutheraner, Chiara Lubich gehörte der Fokolarbewegung an.

Was verbindet sie?

Bei allen Porträts steht die totale Hingabe an Gott im Zentrum: Gott, der mich führt, der mich prägt. Wenn ich mich ihm überlasse, dann führt er mich zum Ziel. Damit verbunden ist eine tiefe Lebensfreude, auch in schwierigen Situationen: Bei Etty Hillesum im Sammellager für holländische Juden und Jüdinnen, bei Madeleine Delbrêl im Elend der Arbeiterquartiere.

Sie haben Madeleine Delbrêl ausgewählt. Inwieweit ist sie für Sie ein Vorbild?

Sie hat als eine der ersten stark unterstrichen, dass Priestertum und Ordensleben keine vollkommeneren Lebensformen sind als die der Lai*innen. Als Gläubige könne sie das Christentum genauso intensiv leben wie eine Karmelitin oder ein Priester. Im Buch finden sich zwölf Fotoporträts «normaler» Zeitgenoss*innen.

Welche Intention verbinden Sie mit dieser Gegenüberstellung?

Wir konnten keine frommen Bilder einsetzen, weil wir uns damit selbst widersprochen hätten. Es sollten Bilder aus unserem Alltag sein. Die Fotografin schlug vor, gewöhnliche Menschen vor einer Goldwand zu fotografieren, die an Ikonen erinnert. Es sind lauter Menschen, die ihren Glauben an Christus konkret und bewusst in ihrer je eigenen Situation umzusetzen versuchen: Indem sie ihren Wohlstand mit den Ärmsten teilen, ein schwer behindertes Kind liebevoll aufnehmen, Menschen, die straffällig geworden sind, nicht nur mit beruflicher Kompetenz, sondern mit Gebeten begleiten.

Das Buch «Heilig» porträtiert die katholische Mystikerin Madeleine Delbrêl (1904-1964), die französische Karmeliterschwester Térèse von Lisieux (1873–1897), die niederländisch-jüdische Intellektuelle Etty Hillesum (1914–1943), den deutschen evangelischen Theologen Jochen Klepper, den zweiten Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld (1905–1961), und die Gründerin der Fokolarbewegung Chiara Lubich (1920–2008). Kostenlose Buchbestellung: sekretariat@bischoefe.ch.

* Die Evangelisch/Römisch-katholische Gesprächskommission ist ein gemeinsames Gremium der Schweizer Bischofskonferenz und der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Die sechsköpfige Kommission bespricht pastorale Fragen des ökumenischen Zusammenlebens. In der Kommission sind die verschiedenen Landesteile und Sprachregionen vertreten.

Dieser Beitrag erschien erstmals in «Forum Kirche», dem katholischen Pfarreiblatt der Kantone Thurgau und Schaffhausen.

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