Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist riesig, die Flucht aus Zentralamerika in die USA hält an. Ein Flüchtlingsmädchen aus El Salvador mit Brot, das kirchliche Organisationen spenden. Tapachula, Mexiko. Mai 2019. Foto: Reuters, Andre Martinez Casares

«Hoffen wir, dass das neue Jahr besser wird als dieses»

Was macht die Welt menschlicher und was bedeutet das für die katholische Kirche? Italo Cherubini macht sich Gedanken zum neuen Jahr.

Italo Cherubini, weitgereist und vielfältig gebildet, überlegt zum neuen Jahr, was die Welt menschlicher macht und was das für die katholische Kirche bedeutet.

Von Italo Cherubini*, Pfarreiseelsorger in St. Marien, Bern

Bei jedem Jahreswechsel wiederholen wir den Wunsch, das neue Jahr möge besser werden als das alte. Man kann es kaum erwarten, dass das Jahr zu Ende geht und projiziert all die Wünsche, die im alten Jahr nicht in Erfüllung gegangen sind, ins neue. Vielleicht sollten wir die Perspektive ändern, um Enttäuschungen zu vermeiden. Wir sollten anfangen, Wünsche zu erfüllen und damit die Welt schöner und menschlicher machen, wie es das Neue Testament lehrt. Freude ist keine Utopie, sondern eine konkrete Möglichkeit, die alle haben können. Für Jesus besteht die Freude nicht in dem, was man bekommt. Er sagt vielmehr: «Geben ist seliger denn nehmen» (Apg 20,35).

Wenn das eigene Glück von den Gaben anderer abhängt, wird man enttäuscht. Niemand kann meine Wünsche und Bedürfnisse vollumfänglich erfüllen. Wenn man aber gibt, ist Freude unmittelbar möglich. Je mehr man gibt, desto glücklicher wird man, denn Gott schenkt jenen Leben, die Liebe geben.

Nach seiner Auferstehung zeigte sich Jesus seinen Jüngern mehrmals. Er sagte jeweils zu ihnen: «Friede sei mit euch!» (Joh 20,19; 21,26). Wenn dieser Wunsch nicht bloss ein Geräusch ist, sondern für das ganze Leben eines Menschen gilt, ist er ein Geschenk. Das hebräische «Schalom», Friede, hat nämlich in der orientalischen Welt eine viel breitere Bedeutung als im Westen – es umfasst alles Gute und Schöne, das den Menschen erfüllt, von Gesundheit über Liebe und Wohlbefinden bis hin zur Arbeit. Diejenigen also, die Frieden stiften, vermitteln nicht nur Freude, sondern bereichern auch ihr eigenes Leben. Wenn Jesus Frieden schenkt, schenkt er Freude, und sein Versprechen bleibt kein Wunsch, sondern wird Wirklichkeit, damit «eure Freude voll sein kann» (Joh 15,11; 16,24). In den Evangelien werden wir eingeladen, diesen Frieden weiterzutragen: «... und auf Erden Frieden den Menschen, die er liebt» (Lk 2,14).

Zum Jahreswechsel veröffentlicht der Papst jeweils eine Botschaft zum Tag des Friedens und als Wunsch fürs neue Jahr. Vor drei Jahren stellte Franziskus den Weltfriedenstag unter das Motto «Überwinde die Gleichgültigkeit und erringe den Frieden». Diese Worte haben mich beeindruckt, erschüttert und zum Nachdenken angeregt.

Weltfrieden?

Es ist keine allgemeine Einladung zum Frieden, sondern eine präzise und genau Analyse dessen, was es bedeutet, ihn zu erreichen. Franziskus schreibt, dass Friede eine «Gabe Gottes und Werk der Menschen» ist. Friede ist ein Geschenk, das mit Verantwortung und Dankbarkeit verbunden ist. Wir sind Friedensstifter*innen, wenn wir auf unsere Nächsten achten, auf deren Bedürfnisse und ihre Zerbrechlichkeit, wenn wir das Gemeinwohl fördern und die geistige Dimension mit sozialem Engagement verbinden.

In seinem Schreiben betont Franziskus, wie Gleichgültigkeit die Herzen verschliesst und das Gewissen ausblendet. Er erinnert an die vielen Formen der Gleichgültigkeit: gegenüber Gott, gegenüber den Mitmenschen, gegenüber der Schöpfung. Es geht letztlich um Besitz und Macht. Mit solchen Formen der Gleichgültigkeit würden bisweilen «tadelnswerte Formen der Wirtschaftspolitik» gerechtfertigt und diese würden zu «Ungerechtigkeiten, Spaltungen und Gewalt führen», schreibt der Papst.

Frieden schaffen, aber wie?

Zahlreiche Konflikte, religiöse und ethnische Verfolgungen, Machtmissbrauch und vieles mehr lassen den Papst von einem «dritten Weltkrieg in Abschnitten» sprechen. Die Mächtigen würden in der Verantwortung stehen. Unermüdlich verurteilt er die Trägheit bestimmter internationaler Gremien oder die Unterordnung eines Grossteils der Politik unter die Hegemonie des sogenannt «freien Marktes» – wo in Tat und Wahrheit aber nichts frei ist, sondern Willkür und Korruption herrscht, «unabhängig von der politischen Ideologie der Regierenden», wie Franziskus schreibt. Er lädt ein, «die Hoffnung auf die Fähigkeit des Menschen – mit Gottes Gnade das Böse zu überwinden – nicht zu verlieren und sich nicht der Resignation und der Gleichgültigkeit hinzugeben.»
Zudem erinnert er an zahlreiche «Handlungen, die von Mitgefühl, Barmherzigkeit und Solidarität zeugen», Initiativen innerhalb und ausserhalb der Kirche, die gegen die weltweite Gleichgültigkeit antreten. Zahllose Nichtregierungsorganisationen würden sich um die Ärmsten der Armen, Menschen an den Rändern der Gesellschaft kümmern: Migrant*innen, Gefangene, misshandelte Frauen, Kranke und Arbeitslose – Menschen, deren Rechte missachtet werden und deren Würde verletzt ist.

Persönliche Erkenntnisse

Indem man sich um das Leben an der Peripherie kümmert, schafft man Frieden. Da schliesse ich mich Papst Franziskus an. An der Peripherie ist die Grundlage menschlicher Zivilisation, eine Gesellschaft der Nähe, in der Menschen nicht zur Ware degradiert werden. Es kann nicht länger hingenommen werden, dass das Wohlergehen einiger Weniger Armut, Verzweiflung und Tod vieler Anderer bedeutet. Frieden ist für mich, gemeinsam auf die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu gehen, eine Verpflichtung aller, ein gemeinsames Haus zu bauen und als Christ*innen zum Leben der Kirche beizutragen.

Für mich ist «die» Kirche nicht bürokratisch, nicht doktrinär und nicht als absolute Monarchie mit einem Kaiserpapst aufgebaut. Sie ist ohne Mitläufer*innen mit der Mentalität von Prinzen oder Beamt*innen und ohne narzisstische Priester, die oft ein Doppelleben führen. Franziskus will eine Kirchengemeinschaft, die allen Menschen in der heutigen Welt zur Seite steht. Sie ist eine Kirche, deren Gläubige sich nicht nur deshalb erkennen, weil sie sonntags zur Messe gehen, sondern weil sie ein freudiges Zeugnis der Botschaft Christi ablegen.

Treue Menschen, die, wie die Seligpreisungen uns sagen, konkret denen nahestehen, die arm sind, die leiden und nach Gerechtigkeit dürsten. Sie ist eine Kirche, in der Laien – Frauen und Männer – in die Entscheidungen eingebunden sind. Denn auch das Kirchenvolk weiss durchaus, welches die richtige Richtung ist. Sie ist eine Kirche im engen Dialog mit anderen Konfessionen und Religionen, im Bewusstsein, dass sie alle Wahrheiten enthalten, die uns bereichern können.

Ich erinnere mich an Luis Martinez Fazio, Professor für christliche Archäologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, einen grosszügigen Mann mit viel Humor. Bei einem Besuch der vatikanischen Nekropole Ende der 1970er Jahre sprach er vor dem Grab Petri von der Einheit der Christ*innen. Er verglich sie mit einer der vielen zerbrochenen Vasen, die dort gefunden wurden. Es gehe nun darum, die Vase wieder zusammenzufügen. Das Problem dabei sei, dass die katholische Kirche denke, sie sei das grösste und wichtigste Stück, an das die anderen kleinen Stücke quasi wieder angeklebt werden müssten.

Aufbauen statt warten

Für die katholische Kirche ist es an der Zeit, mit dem Warten aufzuhören und die Annahme zu verwerfen, die einzige Hüterin der Wahrheit zu sein. Die Worte und Gesten von Papst Franziskus haben zweifellos einen neuen ökumenischen Weg eröffnet, insbesondere im Hinblick auf die tägliche und lokale Dimension der Ökumene, die das «tägliche Brot» des christlichen Lebens sein muss. Beim Aufbau der Einheit müssen wir Werkzeuge in den Händen Gottes sein. Diese Einheit können wir nur durch unsere Teilnahme an einem Tisch beim Brechen des Brotes voll entfalten.

Es tröstet mich, dass Papst Franziskus vorgeworfen wird, den Leib des Herrn in der Eucharistie nicht als Mittel zur Spaltung, sondern zur Einheit zu benutzen. Es tröstet mich, dass ihm vorgeworfen wird, niemanden auf ewig zu verurteilen und zu glauben, dass alle Menschen Gnade erlangen können, sodass niemand in der Todessünde gefangen bleibt. Es tröstet mich, dass ihm vorgeworfen wird, die Beichtstühle nicht in Folterräume verwandeln zu wollen und gemeinsam mit Muslim*innen zu beten, die Gott liebt. – Genau das ist es, was wir brauchen: uns geliebt zu fühlen, nicht getrennt zwischen sogenannt «Gerechten» und «ewig Verdammten». Wir brauchen Kirchen, die den beschwerlichen menschlichen Alltag verstehen, die wissen, dass Gott den Menschen die Gewissensfreiheit noch vor der Freiheit zur Gnade gegeben hat. Und wir hoffen, dass das neue Jahr besser wird, dass wir selbst ein Wunsch für andere sind, eine Hymne an Freude, Freiheit und Barmherzigkeit.

 

 

* Geboren in Argentinien, Sohn italienischer Einwanderer. Aufgewachsen in Italien, in der Region Marken. Italo Cherubini studierte Theologie in Rom und Freiburg (CH). In Italien arbeitete er als Religionslehrer und in der Comunità di Capodarco, einer Gemeinschaft für Erwachsene mit physischen und psychischen Behinderungen. Seit 1992 in der Schweiz, wo er zuerst als Hilfstherapeut in der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau und dann in der Stiftung Bubenberg Spiez, Wohnheim für Erwachsene mit Behinderungen, arbeitete. Seit 2001 arbeitet er als Theologe in der Pfarrei St.Marien (Bern).

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