Tommy Vercetti. Foto: Janosch_Abel

Hoffnung zum Mitnehmen

Eine Annäherung an das neue Album des Berner Künstlers Tommy Vercetti «No 3 Nächt bis Morn». Patrik Böhler wagt sie.

Das neue Album des Berner Künstlers Tommy Vercetti «No 3 Nächt bis Morn» besticht musikalisch wie auch textlich. Es ist eine messerscharfe Analyse mit Hoffnungsfeldern. Da kann etwas gepflanzt werden und wachsen. Eine Annäherung.

Von Patrik Böhler


Wir haben uns arrangiert. Ausserhalb der gewohnten und diktierten Prinzipien gibt es nicht mehr viel zu denken. Spenden ist des Wohlhabenden Pflicht. Damit ist er solidarisch mit den Schwachen, Unterdrückten, Sklaven. Als Abgrenzung gegen Begegnungen hilft es, die Betroffenheit in Schach zu halten. Sonst wäre da Weinen vor Schmerz und Mitgefühl. Doch Verwertbarkeit ist Prinzip, Abgrenzung Schutz. So funktioniert Kapitalismus, und wir sind seine kleinen, bedürftigen Kinder. Wir sind abgerichtet auf formale Prozesse, Abläufe, Strukturen, welche in Widerwasser führen. Vom Gefühl her immer knapp am Ertrinken –Atemlosigkeit, Erstarrung, Burnout.

Doch die Welt darf und soll auch anders gedacht sein. Eine Sehnsucht ist da, angenommen, gehalten und begleitet zu sein. Begegnung «Face to Face» ist möglich. Achtsamkeit, Sympathie und Empathie sind Grundlage dazu. Kann gelernt werden, wird gesagt, wenn gewollt. Ob dies in einer kapitalistischen Gesellschaft gelingt, ist zu fragen. Denn Kapitalismus steuert Prozesse, von der Geburt über die Liebe bis zum Tod.

Mit dieser Einleitung ist die Landschaft des neuen Albums von Tommy Vercetti ansatzweise skizziert – die Karte für die Nivellierung im Detail ist das Album – es gibt es als MP3, als CD und insbesondere als Vinyl mit einem grossartig gestalteten Booklet. Zur Frage: Lässt sich quer zur düsteren Zeit, einer unter Demokratie versteckten Diktaturtendenz, eines unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit versteckten Wettbewerbs und zur entsprechend zynischen Popkultur ein hoffnungsvolles Bild der Zukunft malen?

Die Antwort ist ja – denn die Kunst kann alles. Sie erzählt von dem, was hätte nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sein können. Im Opener des Albums wird thematisiert, dass es die Kunst ist, welche Hoffnung gibt. Auf dem ganzen Album werden wir mitgenommen in verschiedenste literarische Formen. Tommy Vercetti spielt gekonnt mit diesen. Er ist überzeugt, dass uns die positive Zukunftserzählung abhandengekommen ist, und deshalb ist diese wieder zu kultivieren.

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen auf einer Parkbank, jemand setzt sich neben Sie und erzählt ihnen, was seine Hoffnung ist? Und Sie hören zu und sind berührt – nichts Neues –, aber vielleicht etwas Elementares und Prägendes. Das dürfte mehr passieren. Tommy Vercetti will sein Album als eines verstanden wissen, welches Licht in eine düstere Realität bringt und Perspektiven eröffnet. Der Fokus lautet: Was dürfte darüber hinausgedacht werden?

Der Song «Romeo & Julia», symbolgewaltig vom Text her, thematisiert den Mythos, dass Liebende ihre ganze Hoffnung auf eine Person übertragen. In «Güetzi» wird der Sandkasten zur Metapher einer wirtschaftsorientierten Welt. «Vorem Gsicht» thematisiert die Normierung und zeigt die Perversion einer auf Nützlichkeit ausgerichteten Gesellschaft. «Das Sozialleben der Wilden auf 0.65 AE» kommt wie ein ethnologischer Bericht daher, welchen Ausserirdische über die Erde und uns Menschen verfasst haben. «Who Cares?» nimmt jene Menschen in den Fokus, welche in einem Care-Beruf arbeiten, der nicht optimierbar ist, aber trotzdem optimiert und damit unmenschlich wird.

In «Papst & Spekulant» treffen sich zwei Gefangene ihrer Ideologie zum Disput. Da schenkt der eine dem anderen nichts, wie gewohnt in einer Arena. Im «Lied vom Zuunkönig» wird die Selbstüberschätzung der Ego-Ich-AG thematisiert. Darin ein Wortspiel; denn die «Zuunkönige» sind auch jene, welche Zäune um ihre Einfamilienhäuser bauen und für sich selbst König spielen. «Nordwärts» beschreibt eine zukünftige Flucht wegen des Klimawandels in den Norden. «2008» bringt es auf den Punkt: Das System ist gescheitert, denn es ist «ir Praxis u Theorie tot». Wer der Realität in die Augen blickt, Dämonen beim Namen nennt, weiss, dass Hoffnung nichts mit Naivität zu tun hat, sondern in die Handlung führt.

Ist es möglich, in einer Zeit der Optimierungstendenz menschlich zu sein, Mensch zu werden? Ist es nützlich, in einer Zeit mit dem Primat der Wirtschaft und somit des Geldes, für jemanden da zu sein, ohne schon zu wissen, ob es sich lohnt? Tommy Vercetti sagt ja mit dem neuen Album «No 3 Nächt bis Morn». Weil dort, wo wir wollen, sobald wir wirklich wollen, Zukunft zu gestalten wäre. Das letzte Stück fordert uns auf: «If I don’t try, if I don’t try then I’ll never know».

Lasst es uns versuchen und getrieben sein vom Sound und den Texten Tommy Vercettis. Lasst uns Hoffnungsfelder bepflanzen und ihnen Namen geben. Lasst uns Geschichten erzählen an Feuern, welche Wärme bieten, aber auch Orientierung sind. Lasst uns Bilder der Hoffnung malen und diese auf die Strassen stellen mit der von Hand gekritzelten Notiz: «Gratis zum Mitnehmen».

Infos:
Tommy Vercetti, No 3 Nächt bis Morn, CD / Vinyl / digital (ex libris, iTunes, CeDe, Google Play), 2019, ab sofort erhältlich

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