Bild: cc., Lilly Happel, flickr.com

Islamische Perlen

Ich bin dabei, meine Religion zu hinterfragen. Wie stehe ich zu Gott und wie will ich in Zukunft zu ihm stehen, zum alten Mann mit Bart und Schlafrock, so habe ich ihn mir vorgestellt als Kind. Später dann, als Herrscher der Welten und des Jüngsten Gerichts, als König, als Allah der Männer. In einem ledernen Tagebuch entwerfe ich heimlich auf dem Reissbrett, was ich zwar ansatzweise auszusprechen wage, aber nie zu Ende denke, einen Islam nach meiner Façon. Ohne geistige Enge, ohne einschnürendes Regelkorsett. 

Denn ich will atmen. Ich will selber zu Schlussfolgerungen kommen und diese wieder verwerfen; mich von Allah abwenden, mich ihm wieder zuwenden; eine individuelle Sicht entwickeln; den eigenen Verstand gebrauchen; mit anderen Muslimen und Nichtmuslimen kontrovers diskutieren, mich austauschen; Fragen stellen, ohne für Abweichungen von einer gängigen Lehrmeinung an den Pranger gestellt zu werden. Genau so will ich leben. Zweifeln und dennoch Muslimin bleiben. 

Ist aus dem Islam, aus dieser grossartigen Zivilisation, eine Religion der Unterdrückung des Geistes und der Intoleranz geworden? Also mache ich mich auf die Suche und stosse auf die Sufis, die islamischen Mystiker, die sich auf einen inneren Sinn des Korans beziehen und insbesondere die individuelle Beziehung zu Gott suchen, dessen spirituelle Grösse entdecken wollen. Bei Ibn Arabi, einem der bedeutendsten Sufis, habe ich in einem wunderschönen Gedicht aus dem «Tardschuman al Ashwaq» (Dolmetsch der Sehnsüchte), verfasst in Mekka um 1200, eine Perle gefunden. Inspiriert von einer hochgebildeten Perserin, die für ihn die ähnliche Bedeutung wie Beatrice für Dante beim Niederschreiben der «Divina Commedia» gehabt haben muss, verklärt Ibn Arabi eine irdische Liebeserfahrung zur mystischen Gottesliebe, welche alles Irdische übersteigt: 

Oh, Wunder! Ein Garten inmitten der Flammen. Mein Herz ward fähig jede Form anzunehmen: Es ist Gazellenweide und Kloster christlicher Mönche, Götzentempel und des Pilgers Kaaba, die Tafeln der Thora und Quran. Ich folge der Religion der Liebe, wohin auch immer ihre Kamele ziehen. Das ist meine Religion und mein Glaube. 

Über allem steht bei Ibn Arabi die Liebe, sie hilft über Unterschiede hinweg. Sein Gedicht evoziert einen paradiesischen, idyllischen Zustand. Was mich besonders anspricht, ist die Gleichheit, mit der er über die Religionen spricht, sogar im «Götzentempel» kann er sich sammeln und Gott nahe sein. 

Ich verneige mich vor so viel Grösse. Den bärtigen Männern, die wutentbrannt auf Andersdenkende, Andersgläubige, Künstler, «unmoralische » Frauen, auf alles vermeintlich Nichtislamische zeigen, von denen ich so viel lese und höre, in Ägypten, meiner Heimat, und in anderen Teilen der arabisch-islamischen Welt, würde ich die Lektüre Ibn Arabis sehr empfehlen. Warum liest diese Verse nie ein Imam an einer Freitagspredigt? Sie sind zwar nicht aus dem Koran, jedoch fest in der islamischen Tradition verwurzelt und als solche Botschaften der Toleranz, die ich in der heutigen islamischen Welt vermisse. 

Die Perlen liessen sich finden, allein die Perlenfischer haben umgesattelt. Es wurde ihnen zu mühselig, denn Perlenfischen ist ein aufwendiges Unterfangen, man braucht Ausdauer, muss um die Gezeiten wissen, sich einlassen auf die Weite des Meeres, bis es einen belohnt und Muscheln ans Ufer spült. Deshab sind sie rar geworden, die islamischen Perlen und diejenigen, die gewillt sind, sich danach auf die Suche zu machen.

Jasmin El Sonbati, Tochter einer Österreicherin und eines Ägypters, geboren in Wien, aufgewachsen in Kairo und in Basel. Studium der Romanistik. Mitbegründerin des Forums für einen fortschrittlichen Islam. Gymnasiallehrerin in Basel. Autorenportraits

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