Foto: Kanwardeep Kaur/unsplash.com

Jasmin

Wenn die Natur Orientierung gibt

Einst durfte ich eine Reise machen und landete im fernen Andalusien. Viel Farbenfrohes kam mir da entgegen. Unbekannte Düfte und Melodien, die ich noch nie zuvor gehört hatte. In den Hallen der sagenumwobenen, reich verzierten Alcázar von Sevilla fand ich mich wieder. Verzaubert war ich und einigermassen orientierungslos. Die vielen neuen Eindrücke konnte ich kaum verarbeiten. Da führte mein Begleiter mich in den Garten. Er pflückte eine Blüte vom Jasmin und reichte sie mir. Ich roch den herb süsslichen Duft und atmete. Wie diese Blüte duftete! Ich sah mich um. Jetzt erst sah ich die Vielfalt und die Schönheit, die mich umgab. Die Details der goldenen Ornamente, die roten Fische im Teich, die filigranen Gräser, die Zitronen- und Orangenbäume, über und über voller Früchte. Am Duft der Blüte konnte ich mich orientieren, sie führte mich auf ihre Weise durch die Gärten und Gebäude des nach maurischer Baukunst errichteten Königspalastes aus dem 14. Jahrhundert. Bis heute atme ich tief ein, wenn ich mich an diesen Moment zurückerinnere, und meine Sinne öffnen sich.

Die Frau musste eine zwölfstündige Operation am Kieferknochen über sich ergehen lassen, sie hat ein enorm geschwollenes Gesicht und kann infolge der Operation nicht reden. Neben ihrem Bett steht ein Blumenstrauss. Für ein Spitalzimmer nichts Ungewöhnliches. Doch das kleine Beistelltischchen, üblicherweise vollgepackt mit Medikamenten, Wasserflaschen, halbvollen Teetassen und Essenstabletts, strahlt eine ungewohnte Würde aus. Jemand hat ein grünes Tuch daraufgelegt, darauf steht der Blumenstrauss, daneben liegt eine Karte.

Diese Karte reicht sie mir zur Begrüssung und deutet an, dass ich lesen soll. «Liebe Schwester», steht da. «Jetzt siehst du aus wie eine Birne. Ich mag Birnen, besonders die «Gute Luise». Ich schmunzle und sehe die Patientin an. Ihre Augen leuchten. Mit wenigen, liebevollen Worten hat die Schreiberin eine Brücke geschlagen zwischen der aktuellen Realität der Patientin und der Naturverbundenheit ihrer Seele.

Die Heilung wird dauern, dessen ist sie sich bewusst, und als sie ein paar Tage später wieder erste Sätze formt, erwähnt sie den Blumenstrauss. «Der Strauss hat mir Orientierung gegeben», sagt sie, «und die Karte meiner Schwester ist einfach wunderbar.»

Da erinnere ich mich an die Jasminblüte in den Gärten der Alcázar von Sevilla und daran, mit welcher Leichtigkeit sie mich einst durch diese mir so fremde Welt geführt hat.

Simone Bühler, ref. Seelsorgerin

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