«Jesuiten debattieren viel, wie auch in Talmudschulen üblich.» Christian Rutishauser Foto: Manuela Matt

«Jesuiten und rabbinisches Judentum haben viel gemeinsam»

Christian Rutishauser, Provinzial der Schweizer Jesuiten, im Interview über christlich-jüdische Gemeinsamkeiten.

Die Woche der Religionen steht vor der Tür. Das «pfarrblatt» hat Christian Rutishauser* aus Zürich getroffen. Der Provinzial der Schweizer Jesuiten berät den Papst in Fragen des christlich-jüdischen Dialogs.


Interview: Hannah Einhaus

«pfarrblatt»: Sie sind Jesuit und Judaist. Wie kam es dazu?

Christian Rutishauser: Ich habe Theologie studiert, weil mich Religion interessierte, ebenso wie Geschichte und Kultur. Bereits im Gymnasium schrieb ich eine Geschichtsarbeit über die Schoah. Das Theologiestudium führte mich zum historischen Jesus und zum Judentum seiner Zeit. Während des Studiums reiste ich erstmals nach Israel – und stiess dort auf den Zionismus. Drei Wege führten mich also zum Judentum: die europäische Geschichte, die Theologie und der Zionismus. Parallel dazu stellte ich fest, dass die Jesuiten sehr viel Gemeinsames mit dem rabbinischen Judentum haben. So entstand bei mir später daraus diese Synthese.

Inwiefern rabbinisch?

Die Jesuiten sind ein intellektueller Orden, in dem viel diskutiert und debattiert wird, wie das auch in Talmudschulen üblich ist. In seiner Gründerzeit im 16. Jahrhundert waren rund 20 bis 30 Prozent der Jesuiten sogenannte Konversos, also Juden in Spanien, die zum Christentum übergetreten waren. Das hat den Orden geprägt.

Sie sagten einmal, Juden und Jesuiten seien ein «tragisches Paar». Wie meinten Sie das?

Das bezieht sich auf die Moderne ab dem 19. Jahrhundert, als sich Nationalstaaten bildeten. Da war kein Platz für internationale und gleichzeitig religiös-konservative Gruppierungen, die der Säkularisierung sehr kritisch gegenüberstanden. Beide lebten vor allem in Städten, beide waren stark bildungsorientiert, beiden warf man fehlende Volksnähe und eine Weltverschwörung vor. Beide standen der Säkularisierung sehr kritisch bis ablehnend gegenüber. Der Jesuitenorden wurde in der Schweiz 1848, bei der Gründung des Bundesstaates, verboten und blieb es bis 1973, und auch den Juden verweigerte man bis 1866 gleiche Rechte und Bewegungsfreiheit. Jedoch hielten diese Parallelen die Jesuiten nicht von einem antijudaistischen Kurs ab.

Wie fördert die katholische Kirche den Dialog mit jüdischen Gemeinden in der Schweiz? Es besteht der Eindruck, dass es sich lediglich um runde Tische der religiösen Führungen und um akademische Gespräche unter Theologen handelt.

Die jüdische Minderheit in der Schweiz ist sehr klein, und ich habe Verständnis dafür, dass viele Juden kein Interesse am Dialog haben. Viele denken wohl: «Früher habt ihr uns bekämpft, heute bringt ihr uns um, indem ihr uns heiratet, aber beides schadet uns, also lasst uns doch einfach in Ruhe.» So sind es in erster Linie Theolog*innen, die sich in dafür geschaffenen Gefässen treffen. Das sind neben dem runden Tisch auch die Jüdisch/Römisch-katholische und die Evangelisch-Jüdische Gesprächskommission.

Wo bleiben die politisch, gesellschaftlich und kulturell Aktiven?

Es gibt unterschiedliche Ebenen. Bei der Ausarbeitung der Seelisberger Thesen 1947 waren das Religiöse und das Politische noch eine Einheit, die sich dann im Laufe der Jahrzehnte ausdifferenziert hat, zum Beispiel in die CJA-Gemeinschaft, die Antirassismus-Organisationen und so auch in die religiösen Dialog-Gremien. Inzwischen läuft vieles parallel, ich wünschte mir manchmal etwas mehr Zusammenarbeit.

Judenfeindlichkeit besteht latent weiter, meist unbewusst. Das Bild von Jesus als Jude seiner Zeit ist nicht sehr verbreitet ...

Das ist durchaus so, es gibt noch viel zu tun. In der Bevölkerung wird es noch Generationen dauern. Über die Jahrhunderte hat sich solch ein Konglomerat entwickelt, das zu überwinden zwei bis drei Generationen braucht.

Sie fordern eine neue Perspektive auf das Judentum. Jesus sei als Jude seiner Zeit zu verstehen, das Aufeinandertreffen mit den Pharisäern als Debatte unter jüdischen Gruppierungen. Kratzen Sie da nicht am Fundament des christlichen Glaubens?

Ich denke, heute nicht mehr. Ob Essener, Pharisäer, Sadduzäer, die Tempelaristokratie oder Jesu Gefolgschaft: Sie alle standen in der jüdischen Tradition und trugen innerjüdische Auseinandersetzungen aus. Der Antijudaismus lässt sich also damit in keiner Weise legitimieren. Leo Baeck, der Begründer des modernen liberalen Judentums, sah 1938 in den einzelnen Evangelien jüdische Glaubenszeugnisse. Auch Paulus war ein Jude, einfach ein messianischer Jude seiner Zeit. Die einzelnen Schriften des Neuen Testaments sind jüdische Schriften. Erst die Kanonisierung, die Zusammenstellung zum Kanon des Neuen Testaments, ist der eigentliche Trennungsakt.

Sie haben die Muslime einmal die «neuen Pharisäer» genannt. Welche Analogien sehen Sie da?

Dabei ging es mir um eine Projektion von aussen. Die Pharisäer werden dargestellt als die Rigiden, die stur nach dem Gesetz gehen und einen Kontrast zum frauenfreundlichen Jesus bilden. Das steckt sehr tief in uns. Dieses Fremdbild wird heute auf die Muslime übertragen.

Abgesehen vom christlich-jüdischen Dialog hat der Vatikan in den letzten Jahren auch den Dialog mit dem Islam verstärkt ...

Korrekt. Dazu gehören die Konferenz von Abu Dhabi Anfang 2019 und die dort erarbeitete gemeinsame Deklaration zu Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit. In den Vereinigten Arabischen Emiraten entsteht nun ein christlich-jüdisch-muslimisches Zentrum. Eine wichtige Motivation für alle Beteiligten war die Frage, wie man in einer Zeit des Terrorismus den Dialog mit dem Islam führen kann. Eine Botschaft des Friedens sollte an die säkulare Gesellschaft gerichtet werden. 

Gehen die Bemühungen über die abrahamitischen Religionen hinaus?

Natürlich. Das Judentum gehört nach vatikanischer Auffassung nicht zum interreligiösen Dialog, sondern ist durch die enge Verknüpfung der Ökumene zugeordnet. Bei den asiatischen Religionen spielt für uns vor allem der Buddhismus eine wichtige Rolle, gerade hinsichtlich der spirituellen Ebene. Ich habe ja früher das Lassalle-Haus geleitet, das sich stark mit dem Zen-Buddhismus auseinandersetzt. Als Provinzial durfte ich mehrfach durch Indien reisen. Auch der Dialog mit dem Konfuzianismus fördert die Annäherung des Vatikans an China. Mit dem Hinduismus pflege ich hierzulande Kontakte, unter anderem durch wiederholte Besuche im Haus der Religionen, das einen Tempel umfasst.

Welche interreligiösen Aktivitäten stehen für Sie in der nächsten Zeit an?

Am 9. November werde ich im Rahmen der Woche der Religionen auf Radio Maria eine einstündige Sendung über das jüdisch-christliche Verhältnis gestalten. Ausserdem sind wir an der Vorbereitung des neuen Universitätslehrgangs von 2021 bis 2024, bei dem die spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess im Mittelpunkt steht (siehe Kasten unten). Die Absolvent*innen sollen als Wegbereiter für eine Gesellschaft des friedlichen Zusammenlebens wirken.

 

Im Juni 2021 beginnt der Universitätslehrgang «Religionen begegnen – Spiritualität erleben. Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess». Dabei wird der Dialog der Religionen auf spiritueller Ebene vertieft. Der berufsbegleitende Lehrgang dauert sechs Semester und ist eine Zusammenarbeit der Universität Salzburg mit dem Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn (ZG) und dem RomeroHaus (Comundo) in Zürich. Infos und Anmeldung: lehrgaenge@lassalle-haus.org, 041 757 14 38.

 


*Christian Rutishauser (55)
ist seit 2012 Provinzial der Jesuiten in der Schweiz. Von 1985 bis 1991 studierte er Theologie an der Universität Freiburg, und 1998 wurde er vom heutigen Kardinal Kurt Koch zum Priester geweiht.
Er doktorierte 2002 an der Universität Luzern im Fachbereich Judaistik. Von 2001 bis 2009, vor seiner Stellung als Provinzial, wirkte der gebürtige St. Galler im Lassalle-Haus, das christliche Spiritualität mit den Praktiken des Zen-Buddhismus verbindet. Mit einer kleinen Gruppe pilgerte Rutishauser in sieben Monaten von der Schweiz nach Jerusalem. Mit Papst Franziskus sitzt seit 2013 erstmals ein Jesuit auf dem Heiligen Stuhl in Rom.
Aufgrund seines Judaistikstudiums gehört Christian Rutishauser seit 2014 zu seinen ständigen Beratern für die religiösen Beziehungen zum Judentum.

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