Thieng Ly, Freiwillige in der Vietnamesischen Mission. Foto: Ruben Sprich

Kennen, um zu verstehen

Zum Tag der Migrant*innen: Pfarrer Nicolas Betticher und Thieng Ly im Gespräch

Zum Tag der Migrant*innen am 27. September gedenkt Papst Franziskus in seiner Botschaft der Menschen, die «wie Jesus Christus zur Flucht gezwungen» wurden. Pfarrer Nicolas Betticher und Thieng Ly, Freiwillige in der Vietnamesischen Mission, im Gespräch.


Interview: Eveline Sagna, Fachmitarbeiterin Migration


Welches Statement aus der Botschaft zum Tag der Migrant*innen spricht Sie besonders an?

Nicolas Betticher: «Man muss etwas kennen, um es zu verstehen.» Für mich ist dies das Fundament der ganzen Integrationspolitik. Wir haben hier in der Pfarrei angestellte und freiwillig tätige Menschen. Beispielsweise auch zwei Menschen aus Äthiopien. Durch ihre Erzählungen werden sie mir plötzlich ganz nah. Das vorgefasste Bild verändert sich völlig. Kennenlernen heisst tatsächlich, sie zu verstehen, sie gehören zu uns. Danach kann man sich kaum mehr vorstellen, dass sie die Schweiz plötzlich verlassen und an einen Ort zurückkehren müssen, wo sie aus triftigen Gründen weggegangen sind.

Thieng Ly: Mich hat dieser Satz besonders angesprochen: «Um sich versöhnen zu können, muss man zuhören.» Es ist wichtig, Flüchtlingen zuzuhören, wenn sie bereit sind zu erzählen. Mir sind beim Lesen der päpstlichen Botschaft auch sofort Erinnerungen aus der Zeit hochgekommen, als ich selbst mit anderen Flüchtlingen aus Asien in die Schweiz kam. Wenn man an einem fremden Ort ankommt, fühlt man sich gefangen – wie in einem Gefängnis. Man kennt sich nicht aus und weiss nicht, wo man sich erkundigen soll. Ich erinnere mich, dass wir nach drei Monaten in einem Flüchtlingszentrum in eine Wohnung gekommen sind. Es war Samstag im Winter und wir wollten unbedingt am Sonntag in die Kirche gehen. In unserer Wohnung gab es aber weder eine Uhr noch einen Fernseher oder ein Radio. So begaben wir uns am Sonntag, als es hell geworden war, einfach auf die Suche nach einem Kirchturm und landeten schliesslich in der reformierten Kirche in Vechigen.

Viele Vietnames*innen kamen in den 1970ern und 1980ern als Flüchtlinge in die Schweiz. Wie präsent sind die Fluchterfahrungen heute?

Thieng Ly: Seit über 30 Jahren treffen wir uns als Gemeinschaft in der Pfarrei Bruder Klaus und unser langjähriger Pfarrer Joseph Pham-Minh-Van hat uns gerade zu Beginn sehr viel Energie und Unterstützung gegeben. Früher haben wir uns oft zu unseren Erlebnissen auf der Flucht ausgetauscht. Es war für uns und für unsere Kinder bedeutend, diese Erfahrungen nicht zu vergessen. Aber mit der Zeit wurde es auch immer wichtiger, über die Gegenwart und die Zukunft zu sprechen. Wenn man nur in die Vergangenheit zurückblickt, ist es schwierig, im Kopf Platz für die Zukunft zu schaffen. Nach wie vor sind Fluchtgeschichten und Berichte aus der Heimat ein Thema, aber bei mir persönlich lösen sie auch immer grosses Heimweh aus.

Die Vietnamesische Mission ist – wie drei weitere Sprachgemeinschaften – in der Pfarrei Bruder Klaus beheimatet. Wie wird das interkulturelle Miteinander gestaltet?

Nicolas Betticher: Die Sprachgemeinschaften sind für uns als Pfarrei eine grosse Bereicherung. Der gemeinsame Nenner, den wir empfinden, ist der Glaube an Gott. Wir haben alle den gleichen Glauben an den gleichen Gott, aber wir leben ihn anders. Gott widerspiegelt sich bei uns in verschiedenen Kulturen. Das oberste Gremium in unserer Pfarrei ist der Pfarreirat, wo wir die Strategie und die Aktivitäten der Pfarrei definieren. Diesen Rat haben wir vor fünf Jahren ins Leben gerufen und da ist jede Sprachgemeinschaft mit zwei Beauftragten vertreten. Wir sehen so alle Bedürfnisse unserer Pfarrei durch die Brille aller Sprachgemeinschaften. Im Pfarreirat haben wir auch gemerkt, wie wichtig es ist, das Gleichgewicht zwischen Integration und Akzeptanz der kulturellen Identität zu wahren. Für mich ist wichtig, dass die einzelnen spüren: Ich bin hier als Vietnames*in in der Mission zu Hause und gleichzeitig auch in der Pfarrei Bruder Klaus.

 

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