Gemeinsam: Die Welt zu verändern. Foto: HerrSpecht/photocas

Kirchen in der politischen Kampfarena

Religion existiert nicht nur für den Privatbereich.

Gehören die Kirchen in die politische Kampfarena? Peter Saladin (der letzte Kirchenrechtler der Universität Bern) sah sie schon vor mehr als 30 Jahren vor die Wahl gestellt: «Sie verkriechen sich entweder, oder Sie treten zum Kampf an.»

Von Markus Müller, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie öffentliches Verfahrensrecht an der Universität Bern

Seither hat sich die Welt verändert; die Wahlmöglichkeiten sind aber dieselben geblieben. Was sollen sie nun tun, die Kirchen? Die Antwort liegt auf der Hand: Ihr Betätigungs- und Verkündungsort – ihr Kampffeld – ist draussen in der Welt. Wer das nicht erkennt, der hat – um mit Karl Barth zu sprechen – «die eigentliche Dynamik dieser Sache bestimmt noch nicht gesehen. Man kann in der Kirche nur wie ein Vogel im Käfig sein, der immer wieder gegen die Gitter stösst. Es geht um etwas Grösseres als um unser bisschen Predigt und Liturgie!»

Kirche und Politik haben beide dasselbe im Sinn: das diesseitige Wohl der Menschen. Sie sind damit funktional untrennbar miteinander verzahnt. Dementsprechend bindet das Staatskirchenrecht die Kirchen institutionell in die Politik ein (öffentlich-rechtliche Anerkennung) und beauftragt sie, das gesellschaftliche Zusammenleben aus einer christlichen Optik aktiv mitzugestalten. Dieser Auftrag ist nicht nur rechtlich, sondern auch theologisch begründet. Davon zeugen etliche Bibelstellen: So hat beispielsweise bereits der Prophet Amos die Juden angehalten, sich nicht auf die Pflege des Kults im Privaten zu beschränken («Hört auf mit dem Geplärr eurer Lieder! Euer Harfengeklimper ist mir lästig …»), sondern öffentlich für eine gerechte Welt einzustehen (Amos 5,21–24).
Ähnlich empfiehlt der Apostel Paulus den Christen in Rom, sich «nicht den Massstäben dieser Welt» anzupassen, sondern das Evangelium, wo und wie immer möglich, zu leben und zu verkünden (Röm 12,2). Und nicht zuletzt die Seligpreisungen, das Kernstück der Bergpredigt (Mt 5, 3–12); sie stehen geradezu paradigmatisch für den politischen Impuls des ganzen Evangeliums.

Die «frohe Botschaft» als politisches (nicht: parteipolitisches!) Manifest zu verstehen, trifft die Sache ziemlich genau. Jüngst hat auch Papst Franziskus der säkularen Maxime «Religion ist Privatsache» eine deutliche Absage erteilt und einmal mehr die öffentliche bzw. politische Bestimmung der christlichen Religionen herausgestrichen: «Man kann nicht mehr behaupten, die Religion müsse sich auf den Privatbereich beschränken und sie existiere nur, um die Seelen auf den Himmel vorzubereiten. […] Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und individualistisch ist – schliesst immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen» (Evangelii Gaudium N. 182 f.).

Wer nun allerdings die Welt zum Bessern verändern will, darf sich nicht scheuen, in die Kampfarena der Alltagspolitik zu steigen. Von Skeptikern wird indes die «Arenatauglichkeit» der Kirchen angezweifelt. Es fehle ihnen schlicht an der Kompetenz, sich zu komplexen politischen Fragen zu äussern. Ob dem so ist, darf getrost dahingestellt bleiben. Denn es gehört just zu den herausragenden Markenzeichen unserer Demokratie, dass sich auch Inkompetente an der politischen Debatte beteiligen dürfen.
Von dieser Generosität profitieren nicht zuletzt auch Politiker*innen, und dies gar nicht einmal so selten. Bedenkenswerter erscheint da schon der Einwand, dass es auf viele politische Fragestellungen die einzig richtige christliche Antwort gar nicht gibt. Das ist zwar tatsächlich (häufig!) so, darf Kirchen indes nicht davon abhalten, in politischen Fragen Position zu beziehen. Dies freilich stets im Bewusstsein, dass der Teufel – so es ihn gibt – in den absoluten Wahrheitsansprüchen sitzt. Eine Erkenntnis, die man im Lehramt der römisch-katholischen Kirche bisweilen vermisst.

Mit Papst Franziskus scheint indes hier eine neue Ära anzubrechen. Er sieht nämlich in der Vielfalt der Wortinterpretationen nicht einen Makel, sondern vielmehr eine Chance, «die verschiedenen Aspekte des unerschöpflichen Reichtums des Evangeliums besser zu zeigen und zu entwickeln» (Evangelii Gaudium N. 40). Fehlende (theologische) Gewissheiten können Christ*innen und ihre Kirchen folglich nie davon dispensieren, sich politisch für eine «bessere Welt» einzusetzen. Ihre Wortmeldungen müssen sie allerdings in eine Sprache fassen, die heutige Menschen erreicht. Sonst ist der «Kampf» verloren, bevor er richtig begonnen hat.

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